Sequenz drei

Auch Sven ist nach hause gefahren, nachdem er Jannis zur Mutter zurückgebracht hat. Er macht sich zwei Dosen auf, eine mit Ravioli, eine mit Bier. Den Inhalt der ersten füllt er in einen Topf um und erhitzt ihn auf dem Herd, das Bier verleibt er sich gleich so ein.
Sven ist gelernter Koch, hat sechs Jahre in dem Beruf gearbeitet, drei davon in der Großküche eines Hotels, bis er sich dem ständigen Druck, der dort herrschte, nicht mehr gewachsen fühlte und kündigte. Schon kurze Zeit später hatte er wieder eine Beschäftigung als Lagerarbeiter. Als jedoch die Umsatzzahlen der Firma sanken, war er einer der ersten, der die Kündigung bekam. Und weil Sven noch kein Jahr dort tätig gewesen ist, wird er auf ALG II gestuft. Zu dieser Zeit fehlt ihm der Antrieb, sich neue Arbeit zu suchen; Andrea hat eine Halbtagsstelle als Verkäuferin in einer Bäckerei, und wenn es zwischenzeitlich finanziell eng wird, greift ihnen Svens Vater unter die Arme.
Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind weder hilfreich noch aufbauend für Sven, sondern bewirken eher das Gegenteil. Er fühlt sich unnütz, verfällt in Depressionen und fängt wieder mit dem koksen an. Das bekommt Andrea mit, als sie eines Nachmittags von der Arbeit kommt und Sven völlig zugedröhnt auf dem Sofa liegend vorfindet, Jannis, gerade vier geworden, hockt vor dem Fernseher. Noch am selben Abend verlässt sie mit Jannis die Wohnung und zieht vorübergehend zu ihren Eltern, bis sie etwas Eigenes findet.
Dies ist nun etwas über drei Monate her. Seitdem kommunizieren Andrea und Sven so gut wie gar nicht miteinander. Sie erlaubt ihm, Jannis stundenweise zu sehen, jedoch nicht bei ihm zu übernachten, auch wenn er, wie er sagt, die Kokserei wieder aufgegeben hat. Das Wort Scheidung ist bisher nicht gefallen, und davor hat Sven Angst, denn er liebt Andrea immer noch.
Kennen gelernt haben sich die beiden, da war Sven ein Jahr mit seiner Ausbildung fertig und hatte sich gerade von einer Neonaziclique gelöst, mit der er mehrere Monate rumgehangen hatte. Dort wurde bei „geselligen Treffen“ gesoffen, gekokst und Pornofilme geguckt, ab und an Szenekonzerte besucht und an „Bildungstreffen“ in den Hinterzimmern irgendwelcher Spelunken teilgenommen, bei denen ein schmächtiges Männchen mit Hitlerbärtchen und Seitenscheitel über die ‚Wahre Geschichte des Deutschen Reiches‘ parlierte.
Darauf hatte Sven irgendwann keinen Bock mehr und verabschiedete sich. Aber dies wollte der ‚Ortsgruppenleiter‘ nicht einfach so gelten lassen, und ein paar Tage später lauerten eines späten Abends drei Exemplare der Truppe Sven an einer schlecht ausgeleuchteten Straßenecke auf. Womit sie nicht gerechnet hatten, war, dass ihr ausgewähltes Opfer sich nicht durch Überzahl und scheinbare körperliche Überlegenheit bange machen ließ, (dieses zu dieser Zeit vorhandene Selbstbewußtsein rührte von mehreren Jahren Teilnahme in der Ringerabteilung des Turn- und Sportvereins als Junge her, zu dessen Beitritt ihn damals sein Vater motiviert hatte – „damit der Junge sich wehren kann, wenns Not tut“ – und sich nun bezahlt machte) auf den Kräftigsten zuging und diesen mit einem zugegebenermaßen nicht sehr sportlichen Tritt zwischen die Beine in eine knieende Haltung zwang. Daraufhin trat er den Rückzug an, dies mit den Worten „kommt mir bloß nicht mehr in die Quere“.

Sven stellt den Topf und den Löffel in die Spülmaschine, macht sich ein weiteres Bier auf und dreht sich eine Zigarette vom bei Enrico und Armin erstandenen Tabak. Bevor er wieder in Grübeleien verfällt und beginnt, sich Gedanken darüber zu machen, wo Andrea vielleicht heute Abend sein könnte, begibt er sich der Gewohnheit halber noch auf die ‚Alternativ‘-Medienseiten, besucht den Honigmann, Jan Udo Holeys secret-tv und schaut, was die altehrwürdige Thule-Gesellschaft Neues aus der Welt des Nationalen Widerstandes in den Ländern der europäischen Gemeinschaft zu berichten hat. Auch wenn Sven es geschafft hat, sich von seinen damaligen Gesinnungsgenossen zu lösen, üben Medien dieser Art immer noch eine gewisse Faszination auf ihn aus. So ein Dreck sitzt halt porentief, wenn man ersteinmal damit in Berührung gekommen ist!
Das fängt ganz harmlos an mit Behauptungen, dass „die Amis gar niemals wirklich auf dem Mond gelandet sind“, setzt sich fort über kopierte Schwarten, in denen von geheimnisvollen ‚Illuminaten‘ berichtet wird, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen, und die bei Google eingegebenen entsprechenden Stichwörter wie beispielsweise ‚Chemtrails‘ lenken den Suchenden auf jene Seiten, wo seriös und „durchaus glaubwürdig“ aussehende Herren einem ehrfürchtig staunendem Publikum oder leicht überfordert wirkenden JournalistInnen erklären, wer die Kontrolle über Banken und Presse weltweit hat, wer die Menschheit versklaven will und wer Schuld trägt an der Degeneration der Völker, der Verarmung der Mittelschicht, dem Drogenkonsum der Jugend, und so weiter… Nur eines sucht man bei diesen allwissenden Aufklärern vergeblich, nämlich: Lösungen, Tipps und Ratschläge zur Verbesserung der Lage a) des Einzelnen, b) der Menschheit. Damit wird man dann allein gelassen, steckend in einem Sumpf aus angstmachenden Behauptungen, und darf darauf hoffen, dass da einer kommt, die Welt zu erretten, wenn es denn überhaupt nicht schon zu spät ist dafür…
Der Klingelton seines Handys, es ist ‚Engel‘ von Rammstein, reißt Sven aus dieser düsteren Gedankenwelt. Auf dem Display liest er den Namen seines Vaters. „Hallo Dad! Was gibts?“ „Hallo Sven, hier ist Jannis! Opa und ich machen gerade Spaghetti!“ „Hi, Jannis, da freu ich mich aber, dass Du anrufst…“ „Ja. Papa, wann kommst Du wieder vorbei?“ „Na, ich war Dich doch gerade erst besuchen!“ „Ja, ich weiß. Können wir vielleicht mal ins Kino gehen?“ „Klar, mein Großer!“ „Okee, ich mach jetzt Schluss – Opa möcht Dich nochmal sprechen…“ Das Telefon wird weitergereicht und der Ruhrpottakzent von Günther brummt an sein Ohr. Er wird gefragt, wie es ihm geht, ob es schon Neues gibt, ob er Geld bräuchte. „Nö, ist im Moment alles stabil.“ „Dann mach Dir noch nen schönen Abend!“ „Ja, ihr beide euch auch!“ Sven drückt die Verbindung weg, sitzt dort noch eine Weile in Gedanken versunken. Günther liebt seinen Enkel über alles. Und auch mit Andrea versteht er sich sehr gut. Sie ist es gewesen, die ihm ins Gewissen geredet hat, als er nach dem Tod seiner Frau anfing, Trost bei Mariacron zu suchen.
Sven legt das Handy zurück auf die Tischplatte. Gleich morgen, so nimmt er sich vor, würde er Andrea anrufen und bei ihr vorbeifahren, um mit ihr zu reden…

Mit der einsetzenden Dämmerung erreicht Khalil die ihm genannte Adresse, ein Einfamilienhaus in einem Seitenweg, stellt sein Fahrrad auf dem kleinen gepflasterten Hof ab, klingelt. Kurz darauf wird ihm geöffnet, und eine vom Alter schwer einzuschätzende Frau bittet ihn herein, geleitet ihn durch das Haus in den Garten, wo ein großes Partyzelt aufgebaut worden ist. In den Ecken stehen wärmespendende Heizgeräte. Mehrere Gäste sitzen an Biertischen und unterhalten sich. Auf den Tischen stehen Gläser mit frisch gezapftem Bier und anderen Getränken. Auf zwei Tischplatten ist ein Büfett mit diversen Salatschüsseln und kleinen Snacks aufgebaut. Im Freien steht ein High-tech-Holzkohlegrill, der gerade vom Gastgeber angefeuert wird. „Aahh, da kommt die Musik“, wird Khalil von ihm begrüßt, und „nimm Dir schon mal ein Bier, mit dem Grillfleisch dauert es noch etwas.“ Der so Angesprochene lehnt das dargebotene Getränk dankend ab, fragt stattdessen nach Mineralwasser. „Ist auch irgendwo“, wird entgegnet. „Musst mal Dagmar fragen.“ Sogleich steht die Frau, welche ihm die Tür geöffnet hat, Khalil zur Seite, fragt „was möchte er denn, Heinz?“ und Khalil antwortet, für sich selber sprechend: „Ein Mineralwasser wäre schön.“ „Hol ich Dir“, sagt die Frau, und entschwindet durch die offenstehende Glasschiebetür in das Haus. Khalil stellt die Gitarrentasche ab und nimmt auf einem der Klappstühle Platz.
Immer mehr Gäste treffen ein, stellen ihre Salatkreationen auf dem Büfett ab, und auch die Menge an Grillwaren wird ständig größer. „Hier, bitte.“ Dagmar ist wieder da und übergibt ihm ein Glas mit Mineralwasser gefüllt, in dem zwei Eiswürfel schwimmen, die von Kohlensäurebläschen umtanzt werden. Khalil kann sich gerade noch bedanken, dann ist Dagmar schon wieder weiter, setzt sich an einen Tisch mit einem Mann und zwei Frauen, die vor sich eine halbvolle Flasche Aperol und Tonic water stehen haben. Die neu Hinzugekommene hat ihr eigenes Glas dabei, in dem sich, der Farbe der Flüssigkeit nach zu urteilen, entweder Rum oder Whisky befindet. Unterdessen hat Heinz noch etwas Brandbeschleuniger auf die Glut gespritzt, nimmt einen ordentlichen Schluck von seinem Bier und skandiert „gleich geht’s loos, gleich geht’s loos!“
Khalil beginnt etwas umherzuwandeln, um die Schwingungen der Anwesenden aufzunehmen, ihre Energien zu spüren, damit er seine Musik danach ausrichten kann, doch da ist nichts! Irgendwie wirkt alles zäh, trüb, alkoholvernebelt auf ihn; abgestumpfte Menschen, die sich unter Zuhilfenahme von stimulierenden Mitteln in den Zustand von Ausgelassenheit zu versetzen versuchen. Er bemerkt, dass jemand ihn aus der Distanz beäugt, dreht sich hin und erblickt einen grauhaarigen Mann mit ebensolchem Bart, gekleidet in Jeansjacke, Jeans und Turnschuhe, der nun gemessenen Schrittes auf ihn zukommt, ein Bierglas in seiner rechten Hand haltend. „Früher hab ich auch mal Gitarre gespielt“, vertraut er Khalil an, „vor allen Dingen Blues…“ Khalil nickt anerkennend und schlägt dem Mann vor, sich später noch zu einer Session zusammenzutun, doch dieser lehnt verlegen lächelnd ab, es sei schon alles zu lange her und mittlerweile ist er auch aus der Übung, und schlurft Richtung Grillmeister, der ihm sogleich eine Aufgabe zuteilt: „So, wenn Du auf den Grill aufpasst, kann ich weiter die Gäste begrüßen“, die er pflichtbewußt und ergeben übernimmt.
Zu diesem Zeitpunkt betreten ein hochgewachsener Mann und eine eineinhalb Köpfe kleinere Frau das Geschehen, werden sogleich von Heinz in Empfang genommen: „Guten Abend, Herr Doktor, schön, dass Sie da sind, und auch Ihre Gattin..“ Leicht befremdet beobachtet Khalil, dass Heinz tatsächlich vor dem Neuankömmling dienert, kann aber aus der Ferne nicht beurteilen, ob es ernst gemeint ist oder sich um einen Jux handelt. Der als ‚Herr Doktor’ betitelte winkt huldvoll ab und schreitet staatsmännisch wirken sollend auf das Aperol-Quartett zu, begrüßt die Frau des Hauses und die anderen drei, setzt sich schließlich dazu. Khalil fällt eine Narbe auf der rechten Wange des Mannes auf, die Ähnlichkeit aufweist mit solcherart Kennzeichnungen aus schlagenden Studentenverbindungen. Seine Begleiterin hat unterdessen ihre mitgebrachte Schüssel zur Salatbar gestellt und das Grillfleisch in die Obhut vom Bluesman gegeben. Dieser ist bereits eifrig dabei, Würstchen und Steaks auf dem Rost hin- und herzuwenden. „So, Leute! Wendet euch an Helmut wegen des Grillfleisches, Teller und Besteck findet ihr da links, haut rein, lasst euch schmecken!“ Und dann, an Khalil gewandt: „Wenn Du siehst, dass die Leute mit essen fertig sind, kannst Du mit der Musik beginnen – so was wie heute Vormittag in der Fußgängerzone, das war gut.“ „Aye, aye, Käptn“, entgegnet Khalil, woraufhin Heinz zufrieden nickt und sich zur Zapfanlage begibt, hinter der ein Mann damit beschäftigt ist, Bier in Gläser zu füllen. Heinz gibt ihm sein leergetrunkenes Bierglas und fordert ihn auf, es ihm nochmal vollzumachen.
Unterdessen haben die Gäste sich mit Fleisch und Salat versorgt, sitzen an ihren Plätzen und essen. Auch Khalil nimmt sich einen Teller, befüllt ihn mit verschiedenen Salaten, lässt sich von Helmut eine Wurst geben, hält Ausschau nach einem freien Platz und setzt sich zu einem modisch gekleideten Pärchen an den Tisch. Während sie essen, schauen sie immer wieder zu ihm herüber, bis endlich der Mann das Wort an ihn richtet: „Verzeihung, kann es sein – sind Sie der Khalil Samiri?“ Der Angesprochene ist verdutzt, mustert die Beiden, kann sie aber nicht einordnen.
„Wir kennen Ihre Geschichten, von früher, haben Sie mit großem Interesse verfolgt.“ „Ja, das ist wirklich lange her“, stimmt Khalil zu. „Mein Name ist Rocco“, stellt der Mann sich vor. „Und ich bin Sarah.“ Khalil meint, die beiden von irgendwoher zu kennen, und fragt nach, ob sie sich mal begegnet seien. „Sie meinen auf einer Ihrer Lesungen? Leider nein.“ Die Frau möchte nun wissen, ob noch Kontakt zu George und Georgina bestünde, worauf Khalil zurückhaltend antwortet, dass es einmal eine Traumwelt gegeben habe, die sie aber aufgegeben hätten. Der Mann nickt verständig. „Und darf ich fragen, wo Sie jetzt wohnen?“ „Ich bin bei Johann dem Pflanzenesser untergekommen.“ „Sagt Dir der was?“ will Rocco von seiner Begleiterin wissen, doch die schüttelt ihren Kopf.
Khalil will gerade nachfragen, woher sie denn den Gastgeber kennen, da tritt dieser an ihren Tisch heran, fletscht ein Grinsen in die Runde, sagt: „Na, jetzt wirds aber Zeit für die Musik, was?“, wozu das Paar beipflichtet, so dass Khalil sich vom Platz erhebt und sein Instrument auspackt, kurz nochmal durchstimmt, um dann mit bad Moon rising´ von Creedence Clearwater Revival loszulegen. Damit bringt er einen Teil der Gäste schon mal in Stimmung, legt mit John DenversCountry Roads´ nach, läßt Rod Stewards besinnliches ´sailing´ erklingen, hebt die Kurve anschließend an durch stand by me´ von Ben E. King. Sich nicht ganz schlüssig, ob er was Politisches bringen soll, spielt er erstmal ‚Summertime‘, aus Porgy and Bess, schickt den ´stormy Monday Blues’ von T. Bone Walker hinterher, und als er merkt, dass diese Musikrichtung gut ankommt, gibt er ´House of the rising Sun´ als Bluesversion zum Besten. Vereinzelt wird geklatscht, jemand ruft „spiel mal was vom Boss!“, jedoch kann er diesen Musikwunsch nicht erfüllen, bringt stattdessenMr. Tambourine man´ von Dylan, anschließend Kris Kristoffersens me and Bobby McGee´, und beendet diese erste Runde mit Neil Young und ´like a Hurricane´. Jetzt hat Khalil Durst bekommen, begibt sich zur Zapfanlage, kommt mit dem dort tätigen Mann ins Gespräch. Er sei aus Syrien, erzählt dieser ihm, hat in der Nähe von Homs Architektur studiert, und ist wegen des Bürgerkriegs vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen, lebt mit seiner Familie in der Stadt und hat bei der Firma von Heinz Arbeit gefunden. Khalil wünscht ihm alles Gute, lässt seine Blicke schweifen, kann aber Rocco und Sarah nirgends entdecken. An den Tischen haben sich kleine Gruppen gebildet. Er nähert sich dem Tisch, an dem der als „Herr Doktor“ betitelte Mann sitzt, setzt sich dazu, hört, wie dieser gerade dabei ist, einen Vortrag zu halten. „…Und es ist ja nun mal eine Tatsache, dass das internationale Bankenwesen von den Rothschilds beherrscht wird…“ Es erfolgt keinerlei Entrüstung, kein Widerspruch, auch nicht nach der fortführenden Behauptung „genau so, wie sie die Kontrolle über die Presse haben.“ „Ist das tatsächlich so?“ wird von einer Frau gefragt, die nach ihrem Outfit zu urteilen in den 70er Jahren sich der Hippieszene zugehörig gefühlt hat. In Khalils Kopf beginnt es zu rauschen, zwei, vielleicht drei Sekunden dauert der Gedankenkampf, dann zischt es aus ihm heraus, messerscharf: „Was Sie da behaupten, wurde im Dritten Reich schon unter die Leute gebracht. Sie sind gerade dabei, antijüdische Propaganda zu verbreiten!“ Der so Angeraunzte glotzt, jetzt auf einmal sprachlos, wohl nicht damit gerechnet habend, hier auf Gegenmeinung zu treffen, seinen unerwarteten Kontrahenten an, dies mit einem Blick, in dem sich Wut und Abscheu vermengen mit der Unsicherheit, nicht weiterzuwissen mit der Argumentation, nicht umgehen können mit der Situation, da er sein Gegenüber nicht einschätzen kann. Und dieser starrt zurück, herausfordernd, angriffslustig, und ist sich sicher, dass der Mann dort keine höhere Position in irgendwelchen Zirkeln innehat, sondern lediglich das weitergibt, was ihm von irgendwoher eingeflüstert wurde, vielleicht bei den Trinkgelagen seiner Burschenschaft, oder er hat es lediglich im Internet aufgeschnappt, unreflektiert, empfänglich für diesen Mist, im Glauben, am elitären Bankett des „Geheimen Wissens“ teilhaben zu dürfen, nun all dies geflissentlich wiederkäuend, wie das Rindvieh auf der Weide, und dann dümmlich zu stieren, wenn jemand ihm mal einen Stoß zwischen die Hörner verpasst, also verbal, wie jetzt eben geschehen… „Naja, wenn es nun mal zu den Eigenschaften einer Rasse gehört…“ Es ist Heinz, der nun seinen Senf dazugibt, meinend, damit etwas schlichtend Diplomatisches beizusteuern. Khalil schließt die Augen, atmet erstmal tief durch. ‚Wo bin ich hier nur hingeraten?‘ fragt er sich, entscheidet sich dafür, es dabei bewenden zu lassen und nicht weiter auf Konfrontationskurs zu gehen, greift stattdessen zu seiner Gitarre schlägt emoll, Ddur, Cdur und intoniert „verdamp lang her, dat ich fast alles ähnz nohm, verdamp lang her, dat ich an jet jeglööv…“, schaut dabei in die Runde, bemerkt versonnene Blicke, bedankt sich bei seinem Selbst für diese Entscheidung, singt mit volltönender Leidenschaft „et is lang her, dat ich vüür sujet ratlos stund, un vüür Enttäuschung echt nit mehr kunnt“, freut sich, dass tatsächlich hier und da mitgesungen wird und denkt ‚euch krieg ich schon zurück auf den richtigen Weg, gebt mir nur ein bisschen Zeit…‘ Khalil trinkt sein Bier aus, Heinz, ganz der aufmerksame Gastgeber, bemerkt dies, wendet sich ihm zu mit den Worten „jetzn Ouzo?“ Der so Angeredete überlegt, kurz nur, entscheidet sich dafür, nimmt das gut gefüllte Schnapsglas entgegen, kippt den Inhalt mit einem Schluck in sich rein. Der Alkohol beginnt Wirkung zu zeigen bei dem Musiker, und so wagt er es, nachdem er Cat Stevens `Moonshadow´ und ´listen to your heart´ von Roxette zu Gehör gebracht hat, eine Eigenkomposition zu spielen:

„Wenn die Welt in einem grauen Schlier versinkt
Und die Liebe im Meer aus Hass ertrinkt
Wenn die Gier mit dem Wahnsinn die Messer wetzt
Und das Leben für die Industrie verreckt
Dann tanz den Tango Mortale mit mir
Auf dem Hof von der Tierversuchsklinik
Vor den Toren der Pharmaziefabrik
Komm tanz den Tango Mortale mit mir
Komm und tanz den Tango Mortale mit mir
Wenn der Mensch sich aus Rache und Angst verzehrt
Kriege und Mord für heilig erklärt
Wenn das Geld die Sehnsucht nach Freiheit stillt
Und ein Heer aus toten Seelen den Supermarkt füllt
Dann tanz den Tango Mortale mit mir
Auf dem leeren Parkplatz vom Gewerbegebiet
Auf dem Amselfeld wo einst ein Söldner verschied
Komm tanz den Tango Mortale mit mir
Komm mit und tanze den Tango mit mir!“


Khalil vernimmt verhaltenen Applaus, bedankt sich bei seinem zu diesem Zeitpunkt bereits kleiner gewordenen Publikum, nimmt noch einen Ouzo („auf den Philosophen John E. Boner!“), um sich daraufhin etwas koordinationserschwert von seinem Sitz zu erheben und seine Gitarre ordnungsgemäß in ihre Tasche zu packen. Dagmar geleitet den blauen Musiker die Treppe hinauf ins Obergeschoss, wo ihn in einem geschmackvoll eingerichteten Gästezimmer ein frisch bezogenes Bett erwartet. Die Frau erklärt ihm noch, wo sich die Toilette befindet, wünscht eine angenehme Nacht, bis morgen zum Frühstück, macht die Tür hinter sich zu. Khalil zieht Jacke und Pullover aus, plumpst aufs Bett, schafft es noch, sich der Hose zu entledigen und das Licht zu löschen, und kurz darauf ist er eingeschlafen.