Close Encounters

Es sieht so aus, dass dort, wo er sich befindet, Nacht ist. Wenn er den Blick hebt, sieht er Sterne funkeln. Die Umgebung ist für ihn klar erkennbar. Es ist eine steppenartige Landschaft, vielleicht auch eine Wüste. Vor ihm taucht ein felsenartiges Gebilde auf. Es ist ein Berg, von dem ein rötlicher Glanz ausgeht, als würde er von innen heraus leuchten. Oder der Schein geht von den Sternen aus, die ihn anstrahlen. Und im selben Moment steht er auf diesem Berg, dessen Oberfläche sich wie ein Plateau um ihn herum ausbreitet. Die Sterne sind jetzt ganz nah. Er weiß, dass es sich um die Plejaden handelt, streckt seine Hände nach ihnen aus, als könne er sie berühren. Ihm gegenüber steht ein Mann. Er trägt einen weißen Bart, Gesicht und Körper sind mit den Symbolen der Wüstenbewohner bemalt. Der Mann bewegt den Speer in seiner rechten Hand zu ihm hin, sagt „jetzt bist Du hier“, und der so Angesprochene entschuldigt sich für seine Anwesenheit, weil er weiß, dass dies ein heiliger Ort ist. „Du bist hier, weil die Große Kraft es so gewollt hat“, erwidert der Wüstenmensch, „und deshalb ist es Dir erlaubt hier zu sein, in unserer Welt.“ „Ist es ein Traum?“ will der Mann wissen. „Ihr nennt es Traum, für uns ist es eine andere Ebene.“ „Warum bin ich hier?“ „Du bekommst eine Botschaft mit für Deine Menschen. Sie lautet, dass ihr aufhören müsst zu versuchen, die Zeit zu besiegen.“ „Die Zeit zu besiegen?“ „Ja. Haltet die Uhren an! Begebt euch in den Moment der Stille. Nur so kann verhindert werden, dass die Große Kraft stirbt und mit ihr der Planet Erde und alles Leben auf ihm.“ „Ich verstehe. Aber wie komme ich wieder zurück?“ Der Wüstenbewohner deutet mit dem Speer zum Nachthimmel. „Sieh hinauf zu den Sternen! Dann schließe die Augen, und Du wirst wieder auf Deiner Ebene sein…“                                                                         Er erwacht. Tageslicht dringt durch die zugezogenen Vorhänge des Schlafzimmerfensters. Ein Blick auf die Uhr gibt ihm Zeit genug. Auf dem Nachttisch neben der Uhr liegt Tabak mit Blättchen. Feuerzeug und Aschenbecher befinden sich auch auf dem Tischchen. Soll er duschen? Quatsch. Hat er doch gestern erst. Ein bisschen Wasser ins Gesicht und reichlich Deo unter die Arme, wie in der Werbung. Naja, fast. Im Kühlschrank steht lediglich ein Nussjoghurt. Der Sinn steht ihm nach Tiefkühlpizza, oder Ravioli. Und Chips. Das Bier ist auch alle. Genau wie das Geld. Und deswegen muss er jetzt los. Um sich welches zu besorgen. Er fährt von der Köllnischen Heide drei Stationen mit der S-Bahn, nimmt den Bus weiter, der ihn so gut wie direkt zu seinem Ziel bringt.                           „Name?“ „Kellner.“ „Vorname?“ „Rafael.“ „Geburtsdatum?“ „Fünfzehnter Februar.“ Die Frau hinter dem Schreibtisch schaut ihn an. „Neunzehnhundertsiebenundfünfzig.“ „Wohnhaft?“ Er verkneift sich einen Witz darüber, antwortet „Sonnenallee 293.“ Die Sachbearbeiterin vergleicht die Daten. „Haben Sie sich in letzter Zeit irgendwo beworben?“ „Ja. Ja klar, habe ich.“ Rafael breitet seine Arme aus. „Aber da ist nischt zu machen. Nirgendwo hat jemand Arbeit für mich.“ Die Frau hält ihm einen Scheck entgegen. „Den können Sie bei einem Geldinstitut bar einlösen.“ „Danke. Haben Sie noch einen schönen Tag.“   Eine Dreiviertelstunde später sitzt der Mann mit dem ersten geöffneten Bier des Tages auf einer Bank und sieht einer Gruppe von Jungs zu, die abwechselnd einen Basketball in einen Korb versuchen zu befördern. Aus dem Ghettoblaster schallt Musik, eine rüde Mischung aus Rap und Hardrock. ‚Das, was Euch Eure Führer als Sozialismus vorsetzen, ist das strikte Gegenteil von Sozialismus, ist erneute Knechtschaft, Ausbeutung, Terror usw., nur durch andere Personen ausgeführt. Schon in euren Zentralgewerkschaften habt ihr kein Selbstbestimmungsrecht, hier ist die Führerdiktatur vorherrschend.‘ Das hatte Rafael irgendwo gelesen, und es gab seine Ansicht über so genannten Volksvertreter wieder, die, so kommt es ihm vor, lediglich Theater aufführen und dafür reichlich Diäten bekommen – von den ganzen anderen Zuwendungen mal jetzt gar nicht reden, die sie sonst noch einstreichen, für Vorträge und Beratertätigkeit bei irgendwelchen Konzernen. Er jedenfalls braucht diese Knallchargen nicht! Seine Mutter hatte ihn dahin erzogen, selbstständig Entscheidungen zu treffen und kritisch zu denken. Dies jedoch kam in der Schule nicht immer gut an, wenn er mit Lehrern anfing, über ihren Lehrstoff zu diskutieren, im Geschichtsunterricht beispielsweise, wo ein Persilnazi seine Vergangenheit schönreden wollte mit Sätzen wie „dem Hitler haben wir die Autobahnen zu verdanken“ und anderes Gebügel, selbstverständlich immer im Rahmen des Sagbaren bleibend, auch wenn es den Frontalpädagogen schon gereizt hatte, mal ordentlich loszulegen. Das kitzelte dann der vierzehnjährige Rafael bei ihm heraus, als er die Frage stellte, was denn mit den sechs Millionen Juden passiert sei. „Geschichte wird von Siegern geschrieben“, bekam er als Antwort zu hören, und dann, nachgeschoben: „Du kannst davon ausgehen, dass diese Zahl durch die Alliierten gefälscht worden ist.“ In der Pause begab der Junge sich zum Rektor und erstattete Meldung über den Vorfall, in dem festen Glauben, dort Unterstützung zu finden. Doch der Schulleiter, kurz vor der Pensionierung stehend, spielte die Begebenheit herunter, meinte, dass der „Herr Lehrer es bestimmt nicht so gemeint“ habe, und dass er immer schön brav dem Unterricht folgen solle. Die 5 im Fach Geschichte war es dann, die eine Versetzung in die nächste Klasse verhinderte, und auch die tröstenden Worte seiner alleinerziehenden Mutter, er habe absolut richtig gehandelt, konnte die daraus gewonnene Gewissheit nicht rückgängig machen, dass er in einem System aus Lügen und Korruption würde aufwachsen.                  Die drei Jungs haben ihr Spiel unterbrochen, scheinen etwas zu beratschlagen, und dann kommt einer von ihnen zu ihm hinübergelatscht. Er trägt eine blaue Sporthose und ein rotes ärmelloses Shirt, auf das in gelben Ziffern eine 23 gedruckt worden ist. „Wie sieht`s aus, Digga? Willst was kaufen?“ „Bitte?“ Es dauert eine Weile, bis bei dem Angesprochenen der Groschen fällt. „Ach so! Nee, danke. Ich hab alles, was ich brauche.“ Er hält kurz die Bierflasche hoch. „Und die würd ich gern noch in Ruhe austrinken, wenns euch nicht stört…“ Die Worte, höflich aber bestimmt an den Shirtträger gerichtet, kommen klar an, und mit einem „ja Mann, alles klar, Mann“ will er sich wieder seinen Sportkollegen zuwenden. „Was ich noch wissen wollte…“ Rafael deutet zu dem Ghettoblaster. „Der Name der Band würde mich interessieren.“ „Das sind Bodycount, zusammen mit Ice-T.“ „Coole Musik, gefällt mir.“ Während der Sänger sich über eine ‚KKK-Bitch‘ auslässt, landet der nächste Ball im Netz.                                                  Wieder zuhause betätigt Rafael den Knopf der Fernbedienung, zappt durch, bis er auf eine Doku beim SFB stößt. Auf dem Bildschirm ist der Ayers Rock zu sehen, ein wolkenloser Himmel rahmt den rostroten Fels ein. Rafael hat sich auf dem Sofa niedergelassen und sein zweites Bier aufgemacht. Eine Stimme erzählt von Urulu, dem heiligen Ort der dort lebenden Ureinwohner, und dass seit einigen Jahren… Rafael starrt auf das Felsgebilde, erinnert sich mit einem Mal an den Traum letzte Nacht oder auch in den frühen Morgenstunden, kurz bevor er aufgewacht ist, und kommt sich vor wie der Protagonist in ‚Unheimliche Begegnung der 3. Art‘, der im Fernsehen den Devils Tower sieht und plötzlich weiß, warum er zwanghaft aus Rasierschaum, Kartoffelbrei und auch Gartenerde etwas formen wollte, von dem er nicht weiß, was und warum. Das Bild wechselt, und ein Aborigine erzählt von Songlines und Walkabouts, während eine Stimme aus dem off übersetzt. Da wird der Bildschirm dunkel, schemenhaft spiegelt sich Rafael darin, die Fernbedienung in der Hand haltend. Das Bier hat er auf dem Wohnzimmertisch abgestellt. Was hatte der Aborigine zu ihm gesagt? Er solle aufhören, anderen die Zeit zu stehlen? Nein. Die Uhren. Die Menschen müssten die Uhren anhalten, weil sonst…jemand sterben würde? Rafael schüttelt seinen Kopf. Was hatte der Mann in dem Traum noch gesagt? Keine Erinnerung. Rafael Kellner muss lachen. Unglaublich. Und dann findet er diese Doku! Zufälle gibts. Er drückt das TV-Gerät wieder an, nimmt einen Schluck aus der Flasche, schaltet weiter, bleibt bei einer Talkshow hängen, und hat kurze Zeit später die ganze Begebenheit vergessen.