Tötet den Affen

Die Geräusche vorbeifahrender Autos und LKW dringen durch das geschlossene Fenster und bilden zusammen mit dem Anschlagen von Tastatur und dem damit verbundenen Treffen des Kugelkopfes auf die Walze und das dort eingespannte Papier eine orchestrale Verbindung. Die Schreibmaschine steht auf einem Küchentisch. Der Tisch sowie die andere Kücheneinrichtung sind Bestandteil der Mietwohnung. Das Wohnzimmer ist eingerichtet mit seinem eigenen Mobiliar: ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch, den er jedoch nicht mehr nutzt, ein Regal sowie ein niedriger roter Tisch, der mehr der Dekoration dient oder um vielleicht etwas darauf abzustellen. Es gibt noch einen weiteren Raum, das Schlafzimmer, in dem außer seinem Bett noch ein Einkaufswagen mit einem darin befindlichen Fernseher steht. Vor etwa sechs Jahren ist der Mann hierher gezogen, als ihm die Wohnung gekündigt worden ist. Außer ihm leben in dem Haus noch ein Ehepaar in der Wohnung gegenüber, eine junge Frau und ein Mann in den Wohnungen im Erdgeschoss. Von dem Flur seines Stockwerks führt eine schmale Holztreppe zu einer fünften Wohnung, die jedoch leersteht. Ab und an begegnet man sich im Treppenhaus, grüßt, wechselt einige Worte, sonst nichts. Seit dem Nachmittag sitzt der Mann dort und schreibt seine Geschichte. Er hat eine neue Identität angenommen; für das Schreiben nutzt er ein Pseudonym. Er lauscht. Zum Abend hin hat das Verkehrsaufkommen nachgelassen. Nur noch ab und an rauschen PKW vorbei. Jetzt ist vermehrt das Brummen von Lastern zu hören. Er hat seinen Schreibprozess unterbrochen, um einen Schluck aus der neben der Schreibmaschine stehenden Bierdose zu nehmen. Zum Wochenende will der Mann seine Geschichte fertig geschrieben haben, um sie bei einem Literaturfestival in Berlin vorzulesen. Er hat eine Einladung bekommen, wie alle Autorinnen und Autoren, deren Texte in einer im letzten Jahr herausgebrachten Anthologie abgedruckt worden waren. Noch hat er sich nicht entschieden, wie die Geschichte enden wird. Ob die Protagonisten in den Untergrund gehen, oder ob sie verhaftet werden. Oder sich vielleicht einer von ihnen das Leben nimmt, weil die Übermacht des Systems für ihn unerträglich geworden ist. Am Samstag Mittag steigt er in einen Zug, und erreicht nach mehrmaligem Umsteigen den Berliner Hauptbahnhof. Von dort bringt ihn ein Taxifahrer zielsicher zu dem Veranstaltungsort. An dem Tresen steht biertrinkend eine Handvoll Leute; einer von ihnen ist der Herausgeber der Anthologie und Mitorganisator des Festivals. „Khalil Samiri! Schön, dass Du gekommen bist“ wird der Mann von ihm begrüßt, der ihn darüber informiert, wann er mit seiner Lesung an der Reihe sei. Daraufhin sucht sich Khalil einen Platz, trinkt Bier und harrt der Dinge. Nach und nach füllt sich der Club mit Publikum, das sich an die wenigen Tische vor der kleinen Bühne, und als diese belegt sind, auf den Boden setzt. Aus dem ganzen Land sind Schreibende angereist. Sie veröffentlichen in Magazinen mit Auflagenhöhen von vielleicht mal hundert Exemplaren. Die Vorlagen werden zuhause ausgedruckt, im Copyshop vervielfältigt und anschließend ausgelegt, verteilt oder mit der Post verschickt. Worüber ihre Texte handeln? Von verzweifelten, gescheiterten Menschen. Von Abtrünnigen, von Träumern. Als letzter setzt sich Khalil an den auf der Bühne befindlichen Tisch, liest die in der Nacht zuvor fertig gestellte Kurzgeschichte sowie noch einige seiner Gedichte, bekommt Applaus dafür, bedankt sich, und tut seine Texte zurück in den mitgeführten Rucksack. Im Publikumsraum begegnet er Georgina und George. Sie sprechen ihn an, sagen, seine Kurzgeschichte habe ihnen gut gefallen, und dann sagt Georgina, sie habe in einem Traum Signale von ihm empfangen. Khalil nickt, ja, sein Doppelgänger könne im Traum dies tun. „Gibt es noch Andere?“ fragt Georgina. „Ich bin mir nicht sicher. Manchmal vernehme ich noch eine andere Energie, die versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Aber… ich kann sie noch nicht erkennen…“ „George und ich bauen ebenfalls erst seit Kurzem unsere Traumkontakte auf.“ „Habt ihr für heute Nacht einen Schlafplatz?“ George antwortet, sie haben sich ein Hotelzimmer in der Nähe genommen, was sofort von Georgina korrigiert wird in „zwei Hotelzimmer.“ „Was haltet ihr davon, die Adressen auszutauschen?“ Als Georgina ihren Wohnort nennt, zeigt Khalil sich überrascht, sagt, dass er in dem Nachbarort wohne. „Na, dann ruf uns doch an“, schlägt Georgina vor, was von Khalil positiv erwidert wird. Also geben die drei sich ihre Telefonnummern auf aus Khalils Schreibblock herausgerissene Zettel notiert, und verabschieden sich daraufhin. Georgina und George landen noch in einer in der Nachbarschaft des Clubs befindlichen Cocktailbar, um sich dort „die Sterne wegzuschießen“, aber das sei nur nebenbei erwähnt. Khalil unterdessen bekommt seine Übernachtungsmöglichkeit bei einem der Organisatoren angeboten, wo ein Großteil der Angereisten untergekommen ist. Bei Bier und Zigaretten wird noch bis spät in die Nacht beisammen gesessen, und auch hier werden Adressen ausgetauscht und damit der Grundstein gelegt für eine daheraus hervorgehende Literaturbewegung, dem social Beat.