Als Khalil am Morgen erwacht, muss er sich erst einmal orientieren. Am Abend zuvor hat Mikesch ihn zum Haupthaus geführt. Dort sind sie die Treppe hinaufgeschlichen, weil seine Gastgeber, die Gewürzhändler, bereits schliefen. Das Mobiliar des Zimmers erinnert ihn an die Wohneinheiten ihrer Traumwelt: Ein Bett, ein Regal, sowie ein viereckiger Tisch mit einem Stuhl davor. Sein Blick wird von einem Bild angezogen, welches an der Wand gegenüber dem Bett angebracht worden ist. Es zeigt eine Gruppe von fünf Menschen unter Bäumen, zwei gemischtgeschlechtliche Paare sowie eine Frau, die im Vordergrund des Bildes alleine steht. Beim Betrachten dieses Gemäldes beginnt Khalil eine Melodie vor sich hinzusummeln, greift sogleich zu seinem Mobilphon und schickt Morgen-ist-eh-alles-zu-spät eine SMS, in der er ihn bittet, seine Gitarre und Schreibzeug mitzubringen.
Alsdann begibt er sich auf die Suche nach der Küche, findet dort einen gedeckten Tisch vor mit Müsli, Milch, Joghurt, Brot, Butter, Käse, Wurst, Marmelade, sowie einen Zettel mit einigen an ihn gerichtete Zeilen: „Grüß Dich, Khalil! Wir freuen uns, Dich hier begrüßen zu dürfen. Nimm Dir, was Du brauchst. Wir sind am späten Nachmittag zurück.“ Unterzeichnet ist der Brief mit „F&B“, sowie einem flott dahingemalten Pentagramm. Das Katzentier von gestern ist auch da, huscht jedoch davon, als Khalil sich zu ihm hinabbeugt. So bereitet er sich einen Tee zu, frühstückt, spült danach Brett, Becher und Besteck ab, räumt die Sachen weg, von denen er sieht, wo sie hingehören.
Der Weg zu Mikeschs Häuschen führt durch einen Garten. Zwischen den kniehoch wachsenden Gräsern befinden sich Beete, die wohl für Kräuter und andere Nutzpflanzen angelegt worden sind. In dem ganzen Grün entdeckt Khalil einen kleinen Teich, aus dessen Mitte ein etwa fünfzehn Zentimeter hoher Delfin als Wasserspeier herausragt. Der Anblick dieser aus Messing gefertigten Tierfigur lässt Khalils Gedanken weit zurückschweifen, nach Marokko. Dorthin war er gereist, um eine Geschichte weiterzuschreiben, an der er seit einiger Zeit arbeitete. Ihm waren die Ideen ausgegangen, und er hoffte, durch die Reise neue Inspiration zu erhalten.
In der Oasenstadt Tafrout bezog er ein Zimmer in einem einfachen Hotel, und unternahm von dort aus Wanderungen in die Berge, lediglich ausgerüstet mit einem Schlafsack und etwas Proviant. Bei einer Wanderung schlug er sein Nachtlager etwas abseits der durch das Gebirge führenden Straße auf, entfachte ein kleines Feuer, nahm Fladenbrot, Käse und Wurst zu sich, trank dazu Wasser. Bald darauf legte er sich schlafen. Mitten in der Nacht hatte es für ihn den Anschein, als würde ein größeres Tier in der Nähe des Lagers umherschleichen. Am nächsten Morgen hielt er diese Begebenheit für einen Traum.
Wieder zurückgekehrt, wollte Khalil die Handlung der Geschichte fortführen, probierte dazu verschiedene Stimulanzien aus, unter deren Wirkung er hin und wieder auch etwas zu Papier brachte. Zudem hatten einige der Drogen Auswirkungen auf seine Träume, und nach einem weiteren Vierteljahr war er sich das erste Mal bewusst, dass er sich in einem Traum befand. Von da an hatte er fast täglich Klarträume, in die er sich meist in den frühen Morgenstunden begab.
An einem Spätsommerabend fuhr er mit dem Rad zu einem nahegelegenen See. Eine durch Bäume und Sträucher geschützte Stelle aufsuchend entkleidete er sich und ging ins Wasser. Der Mond kam zeitweilig hinter den Wolken hervor, sein Licht schien glitzernd auf die Wasseroberfläche. Der Mann war etwa bis zur Mitte des Sees geschwommen, als neben ihm die Rückenflosse eines großen Fisches auftauchte. Mehr verwundert als erschrocken schaute Khalil ihr nach, erkannte, dass es sich um einen Delfin handeln musste, der sich auf die Uferstelle zubewegte, von der aus er in den See gestiegen war. Und genau dort sah er eine Frau aus dem See kommen, kurz verweilen, dann verschwand sie in der Dunkelheit. Als Khalil wieder bei seinen Kleidern angelangt war, entdeckte er darauf hinterlassen einen zusammengefalteten Zettel, auf dem eine Adresse notiert war.
Ein paar Tage darauf begab er sich dorthin, klingelte, und sogleich wurde ihm geöffnet. In der Tür stand ein Mann, der ihn mit einem strahlenden Lächeln begrüßte. „Khalil! Ich heiße Dich willkommen. Komm rein, komm!“ Khalil wunderte sich nicht, dass der Mann ihn kannte, wusste er doch auch, um wen es sich handelte. „Willstn Bier?“ Sie saßen in der Küche, und Khalil erzählte Diego von seinen bisherigen Traumerlebnissen, und dass es ihm einfach nicht gelingen wollte, sie aufzuschreiben, seine Geschichte weiterzuführen. „Deswegen bist Du ja jetzt hier. Darum hat Susha Dich hierher geleitet.“ „Wer? Ich kenne keine Susha.“ „Die Frau am See“, half D.B. ihm auf die Sprünge. „Der Delfin! Und davor bist Du ihr auch schon mal begegnet, wenn auch nur kurz…“ „…In Marokko! Damals meinte ich, dass irgendein Tier um mein Nachtlager schleicht!“ Diego nickte bestätigend und nahm einen Schluck aus der Bierflasche. „Aber warum…hat sie nicht…mich angesprochen?“ „Wir müssen vorsichtig sein, weißt Du. Es gibt Leute, denen gefällt es nicht, was wir denken. Aber Susha ist fest davon überzeugt, dass Du für unser Unternehmen geeignet bist.“ Auf einmal kam Khalil das alles etwas sonderbar vor, doch Diego konnte ihn beruhigen. „Bleib ruhig bei mir. Ich möchte Dir etwas zeigen…“
Er führte Khalil eine Treppe hinunter in den Keller, wo in einem sonst leeren Raum etwas auf Autoreifen und Europaletten lagerte, das wie ein plattgedrücktes Kunststoffei aussah. „Was ist das?“ D.B. begann ihm Funktions- und Wirkungsweise des Samadhi-Tanks zu erklären, schloss seine Ausführungen mit der Bemerkung, dass dieses Ding ihm helfen könne, seine Gedanken zu sortieren, und tatsächlich sogar… Er ging zu dem Tank und holte aus einem seitlich angebrachten Fach einen kleinen grünen Kasten. „…Sie aufzuzeichnen!“
Khalil klopft gegen die Tür und das Fenster. Da niemand öffnet, geht er davon aus, dass Mikesch wie angekündigt zu D.B. aufgebrochen ist. Er ärgert sich, dass er nicht die Handynummer vom Treckernomaden notiert hat, ist sich auch nicht sicher, ob dieser überhaupt so ein Gerät besitzt. Er entschließt sich zu einem Spaziergang, verlässt den Hof, wendet sich nach links, folgt der schmalen asphaltierten Straße, die ihn an von hohen Bäumen umwachsenen Gehöften vorbeiführt. Er wandert weiter durch freie Pläne, zur linken wie zur rechten Seite Äcker und Wiesen. In der Ferne dreht sich eine Gruppe Windräder. So schreitet er voran, zwischenzeitlich geht ein kurzer Schauer nieder, dann vertreibt die Sonne mit ihren kräftigen Strahlen die Wolken.
In dem Tank kamen seine Gedanken zur Ruhe, wurden nicht durch andere äußere Einflüsse gestört. Direkt über dem Kopf des in körperwarmem Salzwasser Liegenden war eine etwa handtellergroße Membrane angebracht, durch die die Gehirnwellen weitergeleitet und deren Informationen in einem Apparat auf einer Spule gespeichert werden konnten. Nach den Aufenthalten im Tank verband D.B. Khalil mittels Drähten mit dem Apparat. Zuerst vernahm Khalil nur ein stetes Rauschen, in dem er erst leise, wie aus weiter Ferne, allmählich deutlicher werdend, eine Stimme vernahm. „Das bin ich“, rief Khalil erstaunt aus. „Aber wie ist das möglich, dass… meine Gedanken aufgezeichnet werden, und ich sie jetzt hören kann?“ „Das, mein Bester, ist Technicolor“, bekam er von dem grinsenden Diego als Antwort. „Aber wieso ist dieses Verfahren, ich meine, das ist doch…“ „Geheim, geheim“, flüsterte da dieser sonderbare Mensch, und klang dabei wie ein mittelalterlicher Alchimist. „Stell Dir vor, diese Technik würde in falsche Hände geraten, Geheimdienste würden sie für ihre Zwecke missbrauchen. Oder irgendein Hersteller würde den Gesa in Serie produzieren und es gäbe ihn bei ALDI zu kaufen… nicht auszudenken!“
Etwas enttäuscht zeigte sich Diego, als er Khalil nach dessen Träumen befragte, und dieser ihm nicht die erhoffte Antwort geben konnte. Ja, er würde klarträumen und in seinen Träumen reisen, aber in ein Tier habe er sich bislang nicht verwandelt. Und dabei blieb es. Georgina und George, die auch in dieser Zeit den Weg zu D.B. fanden, schafften es bereits nach zwei Aufenthalten im Floatingtank, die Gestalten von Krafttieren anzunehmen. Mit Hübsch-Dich-zu-sehen, der als Letzter zu ihnen stieß, waren sie, wie Diego es formulierte, komplett, um auf die negativen Kräfte einwirken zu können. Dich-zu-sehen besaß die Fähigkeit des Traumreisens, die Fähigkeit des Formwandelns erlangte er nicht.
Diego Balanza brachte den Fünfen seinen Glauben nahe, demzufolge der Äther – in anderen Kulturen auch Prana, Akasha, Qi oder Aither bei den Alten Griechen: der Ort, wo die Götter wohnen – das Kraftfeld sei, welches es von Anbeginn gibt, und das überall und in Allem existiert, und durch das Alles erst entstehen kann. „Aber erst durch das Zusammenwirken mit den anderen Urstoffen – Licht, Luft, Wasser, Erde – kann Leben entstehen. Anorganisches und Organisches.“ Auf die Frage von Georgina, ob der Äther das Higgsfeld sei, reagierte Diego unwirsch. „Ich weiß es nicht…nein! Immer und immer wieder wollen Wissenschaftler etwas beweisen! Sie brauchen Messwerte, Formeln, Gesetze. Und wenn sich etwas mit ihren hochkomplizierten Gerätschaften nicht erfassen lässt, ist es halt nicht existent…“ Missbilligend schüttelte der Mann seinen Kopf.
„Das Werden und das Sein sind untrennbar miteinander verbunden“, setzte Diego seine Erläuterungen fort. „Und beides ist nur möglich durch Informationen…“ Die Zuhörer sahen, wie der Mann um jedes einzelne Wort rang, um sich verständlich zu machen. „…Energie ist so ein Träger von Informationen, quasi der Bote. Aber die Botschaft, die er bringt, muss erst entschlüsselt werden…“ Wieder brauchte er eine Pause, diesmal etwas länger, und Hübsch-Dich-zu-sehen fragte, ob daraus abzuleiten sei, dass letztlich Gedankenkräfte die Ursache allen Seins und aller Dinge sind. „Ohne den Äther würde nichts existieren“, bekam er als Antwort zu hören, „nicht das Universum, nicht dieser Planet mit all seinen Lebewesen… und auch nicht der Mensch und seine Gedanken. Diese Gedanken gehen nun aber nicht verloren, sondern sie werden gespeichert, im Äther, genau wie menschliche Taten, denen Gedanken und auch Worte vorausgehen… Ja, ein Mensch kann Welten erschaffen! Indem er ein Buch schreibt!“ (Er deutete auf Khalil) „Und ebenso kann er Welten zerstören, mit seinen Worten und Taten…“
Kurzes innehalten, als würde Diego auf eine weitere Frage warten. Als keine kam, sprach er weiter: „Indem der Mensch Dinge benennt, werden sie für ihn existent. Das Photon, das Molekül, das Atom. Er kennt Tiere und Pflanzen aus anderen Ländern, ohne dass er dort selbst gewesen ist. Und der Mond ist nicht mehr das geheimnisvolle Licht, das von einer Gottheit über das Firmament gezogen wird…“
Khalil hat den Weg zu einem Biolandhof eingeschlagen, ersteht bei dem dortigen Hofladen Brot, Käse und Tomaten, setzt sich auf eine neben dem Laden stehende Bank und hält Mahl. Ab und an finden die Strahlen der Sonne ihren Weg durch die Wolken, wärmen Gesicht und Hände des dort Rastenden. Wind weht in Böen und kommt noch frisch daher.
Von Khalil war der Vorschlag gekommen, eine gemeinsame Traumwelt zu erschaffen, die ihnen als Fluchtort dienen sollte und in der sie Energien ansammeln konnten.
Dies war in etwa zu der Zeit, als Geheimdienstleute darauf angesetzt worden waren, sie ausfindig zu machen, dies aufgrund in so genannten Szenekreisen kursierender Gerüchte. Und eines Abends wurden sie Hübsch-Dich-zu-sehen habhaft, der während eines Verhöres ihren Aufenthaltsort preisgab. Kurz darauf griffen die Kontrollorgane zu, lediglich D.B. schaffte es, sich der Verhaftung zu entziehen.
Khalil hat seinen Imbiss beendet, säubert seine Hände mit einem Taschentuch und tritt den Rückweg an. Er trifft zeitgleich mit Mikesch auf dem Hof ein, der gerade sein Moped neben dem Deutz abgestellt hat. „Grüß Dich, Mikesch! Und, was sagt Señor Balanza?“ Der Treckernomade geht auf Khalil zu, mit einem verlegenen Gesichtsausdruck umarmt er etwas unbeholfen den gut anderthalb Köpfe kleineren Mann. „Diego sagt, dass er auch nicht weiß, wo sich Susha und George aufhalten.“ „Und hat er gesagt, wer das Fünfte Element sein soll?“ Mikesch kratzt sich am Hinterkopf. „Diego nannte eine Person, die in Frage käme. Es ist die Tochter von Susha. Ja, das waren seine Worte.“
Khalil schließt die Augen. „Von der wissen wir ja auch nichts!
Oh mensch, es ist zum gegen Türen treten…“ Ihrer beider Aufmerksamkeit wird gelenkt auf einen violett lackierten 2CV6 mit einem schwarzen fünfzackigen Stern auf Fahrer- und Beifahrertür. Aus steigt Morgen-ist-eh-alles-zu-spät, holt das gewünschte Utensil von der Rückbank und übergibt es zusammen mit einem Schreibblock und Stift Khalil. „Ich habe noch bei Johann geklingelt, aber da hat keiner aufgemacht.“ Khalil bedankt sich, nimmt die Tasche mit der Gitarre entgegen, um sich damit sogleich auf sein Zimmer zu begeben. Dort fällt ihm ein, Alexander anzurufen.
Durch das Gespräch erfährt er von dem Tod Barflys, was ihn mit Sorge an die Aussage von Morgen-ist-eh zurückdenken lässt, dass er bei Johann niemanden angetroffen hat. Daraufhin gibt Khalil wieder, was Mikesch von Diego zu hören bekommen hat. „Ich denke, uns bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln“, ist die Antwort auf seine Frage, wie sie nun weiter verfahren sollten. „Auf jeden Fall bleiben wir in Verbindung. Und Georgina lässt Grüße ausrichten.“ Na toll, denkt sich Khalil. Zuerst heißt es Eile ist geboten, und nun… Aber er stimmt seinem Mitstreiter zu, schickt Grüße zurück, und packt nach Beendigung des Gesprächs die Gitarre aus, um seine Bildbeschreibung zu Papier zu bringen.
Nachdem er fertig komponiert hat, geht er nach draußen, trifft Mikesch und Morgen-ist-eh beim Schrauben am Deutz an. „Um sieben gibt`s Abendbrot“, verkündet Mikesch. „Frieda hat für alle gekocht.“ Khalil steht da und blinzelt die Tränen aus Rührung und Freude weg, sagt, dass er gar nicht weiß, wie spät es ist. „In einer halben Stunde“, weiß Morgen-ist-eh, was die beiden Männer veranlasst, Feierabend zu machen und ihre Hände waschen zu gehen.
Nach dem Abendbrot sitzen sie noch in der guten Stube, trinken Rotwein („vom Biohof“, verrät Bernhard) und führen anregende Gespräche. „Ach, dann bist Du der Mensch, der die Geschichten verfasst hat“, bemerkt Frieda, was Khalil etwas verlegen werden lässt, aber das muss es nicht. „Einiges haben wir ja vom Mikesch erfahren können“, wirft Bernhard ein. Der sitzt da in einem großen alten Ohrensessel, krault Django und schmunzelt leise vor sich hin. „Also diese Georgina würde ich sehr gerne mal kennenlernen.
Und auch Susha. Das müssen zwei ganz tolle Frauen sein“, schwärmt Frieda, was Khalil nur zu gerne bestätigt. „Leider wissen wir nicht, wo Susha sich im Moment aufhält. Und mit George verhält es sich genauso. Und wir brauchen die beiden so dringend…“ „…Um die fünf Spitzen eines Pentagramms zu bilden“, gibt Morgen-ist-eh-alles-zu-spät sein Wissen dazu, was die Gewürzhändler fragend schauen lässt. „Ich dachte, es geht um den Moment der Stille“, erinnert sich Frieda. „Ja, richtig. Diesen ich nenne es mal Kunstgriff mussten wir damals anwenden, weil unser fünftes Element, Hübsch-Dich-zu-sehen, sich weggemacht hatte.“ „Ja, das fand ich einen betrüblichen Teil der Geschichte. Und …wenn die Frage erlaubt ist: Wer ist jetzt das fünfte Element?“ Khalil breitet seine Arme aus. „Bislang war da niemand. Diego, also D.B., meinte, die Tochter von Susha wäre die geeignete Person. Aber von der wissen wir so gut wie garnichts.“ „Susha hat eine Tochter?“ „Ja, sie müsste jetzt…“ Khalil rechnet nach, „…neunzehn oder zwanzig sein.“ „Ich wünsche mir so sehr, dass alles gut wird.“ Auch in Friedas Augen bilden sich nun Tränen. „Es ist alles so schlimm. Überall, weltweit. Mitunter habe ich das Gefühl, dass dieser…Graue Schlier, so hast Du es doch genannt?, sich überall immer schneller verbreitet.“
„Es ist der Äther, der sich verdunkelt“, pflichtet Khalil der Frau bei. „Er nimmt alle positiven und negativen Energien in sich auf. Leider sind es die negativen Energien, die zur Zeit überwiegen. Und dadurch gerät alles aus dem Gleichgewicht…“ „Ein Teil der Menschheit ist dabei, den Planeten unbewohnbar zu machen“, interpretiert Bernhard Khalils Aussagen. „Und damit rauben sie der gesamten Menschheit ihre Lebensgrundlage, auch Jenen, die nicht unmittelbar an der Zerstörung beteiligt sind.“ „Ja, genau dies ist damit gemeint!“ „Nur hat das so genannte positive Denken recht wenig geholfen. Tut mir leid, aber mit solchen Sachen wie Äther kann ich nischt anfangen“, was Bernhard einen tadelnden Blick von Frieda beschert, und Khalil die Frage stellen lässt, ob er denn an einen Gott glaube. „Genau so wenig! Damals in ihrer Anfangszeit haben die Menschen sich vorgestellt, dass mächtige Wesen Sonne und Mond bewegen, dass Gottheiten Gewitter, Dürre oder Sonnenfinsternisse hervorrufen. Das Wissen, dass es nicht so ist, haben sich einige sehr schlaue Menschen zunutze gemacht und behauptet, sie stünden mit den Gottheiten in Verbindung. Damit verliehen sie sich Macht, und verlangten Opfergaben, um die Götter gnädig zu stimmen. Und daran hat sich bis zum heutigen Tage nichts geändert, außer die Vorstellung von Gott.“ „Ja, absolut“, gibt Khalil dem Mann erneut recht.
„Aber an irgend etwas muss der Mensch doch glauben“, wirft da Frieda ein, was von Khalil bestätigt wird. „Im Glauben findet der Mensch Zuversicht.“ „Ich glaube an die Kräuter, die in unserem Garten wachsen, aus denen ich die Gewürzmischungen herstellen kann, die ich dann verkaufe, um mit dem Geld den Lebensunterhalt meiner Familie zu bestreiten.“ „Ich wusste bislang nicht, mit was für einem Pragmatiker ich verheiratet bin!“ „Aber dass ihr euch deswegen nicht in die Haare kriegt“, ruft Mikesch da aus, „wegen dem ollen Äther!“ „Das ist dann genau das, was seit Jahrhunderten die Menschheit aufeinander losgehen lässt: Glaubenskriege, geschürt von den mächtigen Fädenziehern im Hintergrund.“ Bernhard ist aufgestanden, gibt seiner Frau einen Kuss auf ihr Haupthaar, sagt, dass er gerne noch eine Flasche Rotwein öffnen wird. „Und in der Zwischenzeit kann der Herr Khalil seine Gitarre holen, um uns noch etwas vorzuspielen.“ Dieser wehrt ab, meint, dass es doch schon ziemlich spät sei, und… „Was? Zu spät, um etwas für das vielbeschworene Gleichgewicht der Kräfte zu tun?“ Bernhard schüttelt ungläubig seinen Kopf. „Da hätte ich jetzt etwas mehr Einsatzfreude erwartet.“ Dies bringt Khalil zum lachen, und so leistet er dem Wunsch seines Gastgebers folge. An diesem Abend bringt er „nothing ever happend“ von Del Amitri zu Gehör, „runaway Train“ von Soul Asylum, anschließend „this is the Live“ von Amy Macdonald, als Bluesversion, und auf die Frage von Frieda, ob er auch etwas von Fury in the Slaughterhouse im Repertoire habe, „Drug addicted in the Jailhouse“, um gleich danach „Engel am Meer“ zu intonieren, von einer anderen Band aus Hannover, Systemhysterie. Und dann kündigt Khalil ein eigenes Werk an, gerade frisch entstanden, inspiriert von dem Bild in seinem Zimmer…
1.
gmoll cmoll
Auf dem Bild sieht man zwei Paare
gmoll cmoll
die sich augenscheinlich gut verstehn
A E
Nur die Dame in grüner Jacke
amoll b7 a+
wird wohl allein nach hause geh`n.
2.
Vielleicht ist`s ein Sommerabend
Man ahnt Licht von spätem Sonnenschein
Die Paare tragen alle Hüte
Jedoch die Dame, die hat kein`.
3.
Unter schatt`gem Laub der Bäume
genießt man den Blick auf blaues Meer
Die lauen Sommerabendträume
vermisst die grüne Dame sehr.
4.
hmoll A
Warum hat der August Macke
hmoll A
die Gruppe auf das Papier gebannt
D C
Hat er die Frau in der grünen Jacke
amoll G
vielleicht sogar sehr gut gekannt?
„So, liebe Leute, vielen Dank für Speis und Trank, und die Musik…“ Morgen-ist-eh-alles-zu-spät hat sich erhoben. „…Aber morgen heißt es wieder früh aufstehen für mich.“ Khalil begleitet ihn zu seinem Auto, klärt ihn unterwegs über den Vorfall in Georginas Antiquitätengeschäft auf. „Und als Du vorhin sagtest, dass Du bei Johann Niemanden angetroffen hast…“ „Ich werde morgen gleich nach der Arbeit zum Hof fahren. Und wenn er wieder nicht aufmacht?“ Khalil überlegt. „Wenn Johann unterwegs ist, fährt er mit dem Rad. Das steht hinter dem Haus.“ „Gut. Wenn ich also sein Rad da stehen sehe und Johann öffnet auf mein Klingeln nicht, dann…werde ich mir irgendwie Zugang in das Haus verschaffen.“ „Ruf mich bitte an, sobald Du etwas weißt.“ Sie reichen sich die Hände, Morgen-ist-eh fährt los, und Khalil kehrt in die Wohnstube zurück. Frieda hat mittlerweile den Tisch abgeräumt, Bernhard tätigt den Abwasch. „Wo ist denn der Mikesch?“ „Hat sich auch verabschiedet. Sagte, er wolle noch seinen Gute-Nacht-Joint rauchen.“ „Na, da hätte er ja eben noch fünf Minuten warten können.“ „Du kennst ihn ja.“ Khalil wünscht den Beiden eine angenehme Nachtruhe und begibt sich auf sein Zimmer, wo er noch sein Kraftgebet an den Äther sendet und bald darauf in der Traumwelt angelangt ist.