„Träume nicht, arbeite!“

Die junge Frau hat Schmerzen. Als penetrantes Ziehen in ihrem Rücken, anfangend in der Gegend der Nieren, kriecht es über die Wirbel hinauf zum Genick, und frisst sich dort weiter als zermürbendes Stechen in ihren Kopf, in ihr Gehirn, in ihr Denken… Die Packung mit dem Medikament aus der Apotheke liegt griffbereit in der Schublade des Schreibtischs. Ein Schluck aus der Dose mit dem Energydrink befördert die Tablette in ihr Inneres und lässt sie den Schmerz für eine halbe Stunde vergessen. Ihr Blick konzentriert sich wieder auf den Bildschirm des Rechners. Dort sieht sie einen weiteren Antrag, den es zu bearbeiten gilt. Die den Antrag stellende Person hat eine Geschäftsnummer zugewiesen bekommen. Damit wird jeder Antrag zu einem Fall, über den nach Aktenlage zu entscheiden ist. Es sind an die zwanzig Anträge pro Tag, die bei der Frau eintreffen, manchmal auch mehr. Die Frau hat einen Arbeitstag von acht Stunden, von denen eine halbe Stunde Mittagspause abgerechnet wird. Es wären somit 22,5 Minuten, die ihr zur Bearbeitung eines Antrages zur Verfügung ständen. Jedoch beansprucht das Lesen von E-Mails, das Führen von Telefonaten und die Gespräche mit Kollegen und Vorgesetzten im Durchschnitt eine Stunde, also Zeit für zweizweidrittel Anträge weniger. Und ebensolche unbearbeiteten Anträge stapeln sich im Eingangskorb der Frau und verursachen ihr diese Schmerzen. Denn die Frau vergisst nicht, dass die Geschäftsnummern Menschen sind. Menschen, die nach der Grenzöffnung hierhergekommen sind, weil sie meinten, hier die Insel der Glückseligkeit vorzufinden, wo sich das Glücksrad ständig und für jeden dreht, und Wünsche sofort in Erfüllung gehen, so wie es die Werbesendungen im Westfernsehen versprochen haben. Dafür verließen viele ihre Wohnungen, das nötigste Hab und Gut auf das Dach des Trabi geladen. In Berlin und Leipzig standen ganze Wohnblocks leer, die nach und nach zu Treffpunkten für Künstlerszenen und Technoraves wurden.           Die Bürouhr zeigt die Zeit für die Mittagspause an. Die Sachbearbeiterin isst einen Müsliriegel, trinkt dazu aus der Energydrinkdose, dabei weiterhin die Angaben auf dem Formblatt durchlesend. Würde sie ihre halbe Stunde Pause wahrnehmen, weiß sie, dass weitere eineinviertel Anträge unbearbeitet liegenblieben. Das hieße eine Nichterfüllung der Sollvorgaben für ihre Dienststelle, was zu einer Rüge ihres Vorgesetzten führt, der wiederum den Druck von seinem Vorgesetzten weitergibt. Auch muss die Frau seit einer Stunde auf die Toilette, und irgendwann würde sie zumindest diesem Bedürfnis nachgeben müssen.              Es wird an die Bürotür geklopft. Ohne eine Aufforderung abzuwarten kommt ein Mann herein, grüßt die Sachbearbeiterin mit einem gewinnenden Lächeln. Diese grüßt zurück, fragt, womit sie helfen kann, dies, obwohl jetzt gar keine Geschäftszeit bei ihrer Dienststelle vorgesehen ist, doch das freundliche Auftreten von dem Herrn lässt sie für den Moment ihre Vorschriften vergessen, ebenso die Anträge, den Stress, und auch ihre drückende Blase. „Ich bin neu hinzugezogen und möchte mich anmelden.“ Mit einem aufrichtigen Bedauern schüttelt die Frau ihren Kopf. „Da sind Sie hier verkehrt. Da müssen Sie zu Zimmer 234.“ Die Bezeichnung Zimmer für die Diensträume konnte nichts an den Eindrücken verbessern, die Stahlschränke, Stahlschreibtische und ebensolchen Regale, vollgestellt mit Aktenordnern, hinterließen. Auch die in der Ecke stehende Glücksfeder und der Wandkalender mit Landschaftsbildern – für den laufenden Monat ist eine Aufnahme von der Ägäis zu sehen: blaues Meer, Segelboote, eine felsige Bucht mit einer Zunge Sandstrand – halfen nicht, den Zweck der Einrichtung zu verbergen: die Verwaltung von Menschen, die in dieser Stadt leben, gelebt haben oder zu leben beabsichtigen. „Wieso, das ist doch hier…“ Der Mann wirft einen Blick zurück auf das Plastikschild links neben der Tür. „Oh. 243. Mein Fehler. Wo muss ich denn da…“ „Den Flur links entlang“, hilft ihm die Frau bei seiner Orientierung. „Vielen Dank. Ihnen noch einen angenehmen Tagesverlauf.“ Der Mann zieht die Tür wieder zu und geht den Flur entlang. Seine Schritte werden gedämpft durch einen dort ausgelegten graubraunen Filzteppichboden. Entlang des Flures stehen oder sitzen vereinzelt Menschen, die darauf warten, aufgerufen zu werden. Manche von ihnen scheinen bereits sehr lange dort zu warten. Da sieht er die Tür mit dem gesuchten Nummernschild. Wieder klopft er an, wartet diesmal, bis eine Stimme ihn dazu auffordert, einzutreten. Der Raum ist mit dem gleichen zweckmäßigen Mobiliar ausgestattet. Hinter dem Schreibtisch dort sitzt ein Sachbearbeiter, der ihn mit durch Brillengläser verstärktem Blick mustert. Er trägt einen Pullunder, der eine ähnliche Farbe hat wie der Schreibtisch, der Schrank, die Regale und der Teppichboden. Seine Gesichtshaut erscheint ebenfalls grau im Licht der Leuchtstoffröhre. Wortlos wartet er ab, was der Eingetretene von ihm will. Nachdem dieser sein Anliegen genannt hat, beginnt er, die Tastatur des Computers zu bedienen, und, ebenso mechanisch, die Daten abzufragen. „Name?“ „George Oremora“. „Bitte buchstabieren Sie.“ „G-E-O-R-G-E-O-R-E-M-O-R-A.“ „Geburtsdatum?“ „Einundzwanzigster Oktober Neunzehnhundertneunundfünfzig.“ „Geburtsort?“ „Hamburg“. „Sie haben Ihr Abmeldeformular dabei?“ „Ja, habe ich.“ George holt ein zusammengefaltetes Blatt aus der Innentasche seines Jacketts, überreicht es dem Beamten. Der nimmt das Blatt entgegen, faltet es auseinander, überprüft die dort zu findenden Angaben auf ihre Richtigkeit. In dem Augenblick beginnt das Telefon zu klingeln. Der Mann hinter dem Schreibtisch unterbricht seine Tätigkeit nicht, reicht das Formular an George zurück, wartet bis das Klingeln aufhört. „Ihre jetzige Adresse?“ George nennt sie ihm. Auch diese Daten werden erfasst, das neue Formular wird ausgedruckt, gestempelt und unterschrieben. „So, bitte.“ George nimmt das Papier entgegen, bedankt sich, wünscht auch hier einen angenehmen Tag. Wieder draußen auf dem Gang faltet er die Anmeldebestätigung zusammen und steckt sie weg, muss sich kurz orientieren, um dann den richtigen Weg zum Treppenhaus einzuschlagen. Er sieht eine Frau, die einen kleinen Jungen in den Armen hält. Sie trägt ein Kopftuch, einen zerschlissenen Mantel und einen langen, bis zu den klobigen Stiefeln reichenden Rock aus grobem Stoff. Neben ihr steht ein Mann gegen die Wand gelehnt, in seinen Händen einen schwarzen Hut haltend. Auch sein Anzug ist schwarz und abgetragen. Die Frau und der Mann erwecken den Eindruck, als kämen sie nicht nur aus einem anderen Land, sondern auch aus einer anderen Zeit. Endlich wieder draußen, atmet George erst einmal tief ein und aus. All diese Begegnungen dort in dem Gebäude sind mit starken Emotionen verbunden gewesen. Bei der Frau im ersten Raum hat er ihren Schmerz wahrgenommen. Sowohl ihren physischen als auch den seelischen, der auf ihr lastet, verursacht durch all die Schicksale, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wird. Bei der Frau und dem Mann im Gang spürte er Trauer und Resignation. Aber auch Liebe, die sie füreinander empfanden. Als unangenehm hat George empfunden, was in Raum 234 geherrscht hat: da ist etwas Kaltes, Sezierendes gewesen, was jedoch nicht von dem Mann alleine ausgesendet wurde. George kam es vor, als wäre der Sachbearbeiter Bestandteil von etwas geworden, das ihn vereinnahmt hatte. Aber das war nichts Organisches, nichts Lebendiges. George hat keine Gefühle wahrnehmen können. Stattdessen meinte er, dass etwas in ihn einzudringen versuchte, um sich seiner zu bemächtigen. Hin und wieder hat George so etwas zu spüren bekommen, in der U-Bahn, auf der Arbeitsstelle, oder auch beim einkaufen. Aber dort ist es besonders stark aufgetreten. In einer anderen Zeit hätte so eine Begebenheit den Mann dazu veranlasst, sich mit Alkohol zu stabilisieren, seine fibrigglühenden Nerven zu beruhigen, dies entweder an einem Kneipentresen oder mit Ware aus dem Supermarkt. George schließt sein Rad auf und fährt zu der neubezogenen Wohnung. Als erstes greift er zum Telefon und tastet eine Nummer ein, spricht eine Nachricht auf den daraufhin eingeschalteten Anrufbeantworter. George ist froh darüber, dass er dieser Frau begegnet ist. Manche nennen es Vorherbestimmung, doch daran mag der Mann nicht glauben. An Schicksalsfügung ja. Die Wege zweier menschlichen Wesen kreuzen sich. Häufig geschieht dies, ohne dass sie einander bewusst wahrnehmen. Mitunter führen sie eine kurze Unterhaltung. Oder sie schließen ein Geschäft ab. Haben Sex miteinander. Und manchmal tötet das eine Wesen das andere. Aber all dies passiert nicht aus einer Bestimmung heraus. Die Entscheidung über ihr Handeln liegt bei den Menschen.           George war in die Kneipe gegangen mit dem Plan, dort Bier zu trinken. Und weil er auf dem Schild gelesen hatte, dass dort Guinness ausgeschenkt wird. Und Georgina? George sitzt an dem blauen Tisch und überlegt. Er weiß es nicht. Sie hat es ihm nie erzählt, warum sie an diesem Abend in die Kneipe gekommen waren. Georgina und ihre Schwester. So hatte sie die Frau in ihrer Begleitung genannt. Der Mann bewegt leise lächelnd den Kopf hin und her. Hatten die Beiden bereits an der Bar gesessen, als er hereinkam? Oder betraten sie nach ihm die Kneipe? Er weiß noch, dass er an einem Tisch platz genommen hatte. Und aus den Lautsprechern war Musik zu hören. Aber er kann sich nicht mehr daran erinnern, was für welche es gewesen ist…             Es ist Zeit geworden, dass George sich zur Arbeit begibt. Auch dorthin fährt er mit dem Fahrrad. George besitzt kein Auto, hat auch nie eine Fahrerlaubnis dafür erworben. Eine knappe halbe Stunde, nachdem er von seiner Wohnung losgefahren ist, stellt er das Rad vor dem Fabrikgebäude ab und betritt die Produktionshalle. Es ist sein zweiter Arbeitstag dort; er wurde zur Spätschicht eingeteilt. George Oremora hat schon einiges an Arbeit hinter sich gebracht. Im Lager hat er gearbeitet, hat Metallfässer mit Hammer und Meißel aufschlagen müssen, ist Gabelstapler gefahren, war auf Montage. Alles nur befristet, mitunter lediglich ein paar Wochen, dann treibt es ihn weiter, zu einem anderen Ort, in eine andere Stadt, mit anderen Kneipen und Menschen. Und nun ist er hier, greift heiße Brotbackformen vom Fließband, stapelt sie zu Türmen. Schwere Maloche, wie immer, die ihn den Lärm in seinem Inneren vergessen helfen soll;das Leid, die Angst, den Hass, die Stimmen all dieser Menschen, die dort wohnen in den Städten. Ihre Emotionen, die sie voreinander und oft auch vor sich selbst zu verbergen versuchen; George nimmt sie wahr. Er kann sie spüren, wie elektrisch geladene Teilchen, die in seinen Körper dringen. Und je näher Menschen ihm kommen, um so intensiver wird dieser Beschuss von den Teilchen. Wenn George dies nicht mehr aushalten kann, muss er fliehen, fort von diesen Menschen und ihren Gefühlen, die auf ihn eindringen. Zwar hat er nach und nach gelernt, diese Flut von Emotionen einzuordnen, sich bewusst gemacht, dass sie von außen kommen, genau wie die Stimmen, das ständige Flüstern, Raunen, Stöhnen in seinem Kopf. Es waren menschliche Gefühle. Nicht wie das, was er dort in der Behörde in Raum 234 zu spüren bekommen hat. Er weiß nicht, was es gewesen ist. Er kann es nicht benennen.          „Ich habe an dem Abend Deine Gedanken aufgefangen.“ George kann es erst kaum glauben, was die Frau zu ihm sagt. Sie sitzt ihm in seiner Wohnung gegenüber, hat sich als Georgina Darling vorgestellt. Er hat Tee zubereitet, und nach und nach hat sein innerer Sturm sich gelegt. Ganz ruhig ist es auf einmal geworden, bis auf so ein kleines Wispern. „Manchmal kann ich auch die Träume anderer Menschen sehen.“ Nein, dies könne er nicht, sprach George. „Ich kann mich nicht mal an meine Träume erinnern.“    Ein Anruf von dem Arbeitskollegen reißt George aus seinen Gedanken. „Mensch, träum da nicht, arbeite!“ Vor ihm haben sich bereits mehrere der Backformen für Toastbrote angesammelt. Schnell sammelt er sie ab, spürt das heiße Blech durch den dünnen Stoff der Arbeitshandschuhe, und den Schweiß seinen Rücken hinabrinnen. Der menschliche Roboter knirscht mit den Zähnen, innerlich über die Entscheidung fluchend, hier Arbeit angenommen zu haben. Zumindest zwei der Gründe für diese Selbstkasteiung, der Lärm im Kopf und das Vibrieren der Nerven, haben seit dem Gespräch mit der Frau nachgelassen. Und der dritte Grund ist ein profaner: George bekommt dafür Geld, und mit dem Lohn schafft er es, sein Leben zu bestreiten, Miete zu zahlen, Essen zu kaufen, und sich Abende in Kneipen leisten zu können, wo er sich betrank, um den Leidensweg, als den er sein Leben betrachtet, ertragen zu können. Nach zwei Stunden erfolgt der Wechsel zu einem anderen Fließband. Dort sind die Backformen nicht mehr so heiß, dafür aber schwerer. Und George trifft für sich die Entscheidung, dass er dort nicht lange bleiben wird.