Nobody knows where you are, how near or how far. Shine on you crazy Diamond (Roger Waters)
„Sei gegrüßt, Susha!“ Die Frau hebt ihren Blick vom Boden, stellt die Hacke ab. „Khalil! Auch Du sei gegrüßt! Willst Du Dich der Gartenarbeit widmen?“ „Ich wollte mir mal anschauen, wie das Ganze hier geworden ist…“ „Und? Gefällts Dir?“ Khalil lässt seinen Blick schweifen. „Wie groß ist das denn hier? Ich meine…“ „Insgesamt sind es… zweihundertvierundsechzig Gärten.“ „Du Heiliger! Und wer soll die alle bewirtschaften?“ „Na, ich denke, irgendwann werden noch weitere dazukommen.“ „Ja, das haben George und Georgina auch gesagt, als wir die Wohnblocks erschaffen haben.“ „Also ich glaube fest daran, dass noch welche dazustoßen werden.“ Khalil bewegt zweifelnd seinen Kopf hin und her, deutet auf einen Stapel Bretter und Balken, der in einem der Gärten liegt. „Wozu ist das?“ „Baumaterial für eine Hütte. Wir dachten uns… also ich dachte mir, dass es ganz schön wäre, wenn nicht alles schon fertig ist, sondern sich selber handwerklich betätigt werden kann.“ „So? Naja, ich bin da jetzt nicht der Handwerker.“ „Georgina hat auf jeden Fall Lust dazu. Und Hübschi bastelt auch ganz gerne mal an etwas herum.“ „Aha.“ Als Susha merkt, dass der Begeisterungsfunke nicht auf Khalil schafft überzuspringen, erinnert sie ihn daran, dass sie doch alles ausführlich im Keller ausgearbeitet haben. „Ja, schon. Aber hier nun erscheint alles doch… irgendwie größer.“ Dem muss Susha zustimmen. „Wo befindet sich denn mein Garten?“ Susha deutet zu einem Grundstück gleich neben ihrem. „Na, da kann ich ja eben hingehen.“ Khalil steigt von dem Kutschbock ab, geht den Kiesweg entlang, öffnet die etwas über kniehohe Pforte. Eine kleine an den Leisten befestigte Kuhglocke ertönt. Das bringt Khalil endlich zum lachen. „An was Du alles gedacht hast!“ Er beschaut sich die Blumen und Pflanzen, die dort wachsen, während Susha sie für ihn benennt. „Das da hinten sind Rhododendren“, weiß Khalil, „und das hier…“, er geht auf einem Baum zu, „…ein Apfelbaum? Nee…“ „Kirschen. Die Zeit dafür ist aber schon vorbei. Bei Hübschi steht ein Apfelbaum. Die sind demnächst reif.“ „Wo ist der?“ „Hier, neben meinem.“ „Ist er auch hier?“ „Er hat gesagt, er kommt noch. Soviel ich weiß, ist er im Haus…“ „Im echten Haus?“ „Die Frage lässt Susha lachen und mit ihrer freien Hand um sich deuten. „Das ist doch alles echt. Ich mach da keinen Unterschied.“ Khalil geht zur Hütte, die sich am Ende des Grundstücks befindet. „Weißt Du, wo Georgina und George sind?“ „Ich glaube, sie schlafen noch.“ Susha nickt und widmet sie sich wieder ihrer Arbeit, das Beet winterfertig zu machen. Khalil steht im Inneren seiner Hütte. Ein vertäfelter Raum, vielleicht drei mal vier Meter. Rechts vom Eingang steht ein Bett, davor ein kleiner Tisch, auf dem der mittlerweile wieder obligatorisch gewordene Notizblock und ein Stift liegen, daneben ein Stuhl. Der Mann greift den Block, liest ‚Willkommen in Deiner Hütte, Khalil! Ich hoffe, es gefällt Dir, was Du im Schrank findest.“ Darunter ist ein Smiley gemalt und ein geschwungenes G. „Hm.“ Gerne hätte er den Schrank nach eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen befüllt, fühlt sich nun etwas bevormundet, öffnet jedoch neugierig die rechte Klappe des über Spüle und Gasherd angebrachten Hängeschranks, entdeckt im oberen Fach Gläser und Tassen. Darunter sind Teller und Bretter untergebracht. Links oben steht eine Teekanne, darunter liegen Zeitschriften. Khalil greift sich die zuoberst liegende. Was er sieht, ruft ein überraschtes Lachen hervor. Es ist ein Herrenmagazin, ebenso die anderen; Playboy, Penthouse… Während der Mann die dort abgebildeten Frauenkörper betrachtet, bekommt er tatsächlich eine Erektion, obwohl er diese Form erotischer Darstellung, sei es als Fotografie oder im Film, eher als langweilig empfindet. Khalil sieht es als ein Experiment an, setzt sich auf das Bett, und beginnt, sein steif gewordenes Glied zu massieren, blättert die Seiten des Magazins um, reizt dabei weiterhin seinen Schwellkörper, bis er den Höhepunkt kommen fühlt und sich bereit macht, auf das vorher ausgelegte Stofftaschentuch zu ejakulieren. Es tritt jedoch kein Sperma hervor, Erektion und Erregung klingen ebenso schnell ab wie sie sich angekündigt haben. ‚Fortpflanzen können wir uns hier also nicht‘, schlussfolgert Khalil, bringt seine Kleidung wieder in Ordnung, will sich die Hände waschen, jedoch gibt es in der Hütte keinen Wasseranschluss. Draußen im Garten findet er einen Wasserhahn. „Und, wie findest Du`s?“ hört er Susha fragen, was ihn gegenfragen lässt „von wem ist denn die Idee mit den Erotikmagazinen?“ „Das kam von Georgina – aber dem Ponee.“ „Aha.“ Die Hände in der Luft trockenwedelnd kehrt Khalil auf den Weg zurück. Auf einem Fahrrad nähert sich ihnen Hübsch-Dich-zu-sehen. „Hey! Sportlich“, wird er von Susha begrüßt. Hübsch-Dich-zu-sehen steigt ab. „Mit den Pferden kann ich mich nicht so recht anfreunden. Da bleib ich lieber beim Drahtesel.“ Auch er zeigt sich überrascht von der Größe des Terrains. „Ganz schön weitläufig hier.“ „Susha meint, dass noch andere den Weg hierher finden werden.“ „Wie soll das denn funktionieren?“ „Na, durch positives Denken“, schlägt Susha vor, woraufhin Hübsch-Dich-zu-sehen entgegnet, dass dies nach alldem, was vorgefallen ist, nicht mehr so einfach wäre. „Habt ihr denn auch an Regen gedacht?“ lenkt Khalil zu einem anderen Thema, dabei zum Himmel deutend, „oder gibt es hier nur blauen Himmel mit Wattewölkchen?“ „Nö, das ist hier auf den Lauf der Gezeiten programmiert, da können wir jetzt nicht so viel dran drehen…“ Unterdessen hat sich Hübsch-Dich-zu-sehen auf sein Grundstück begeben, begutachtet die dort herumliegenden Bretter und Balken. „Gibt´s hier auch Werkzeug?“ „Ja, da steht ne Kiste mit Hammer, Zangen und Nägeln.“ „Haben wir hier denn überhaupt Strom?“ Da kommt von Susha nichts. Hilfesuchend schaut sie zu Khalil, doch der zuckt lediglich mit den Schultern. „Hab jetzt kein Kernkraftwerk gesehen“, was Hübsch-Dich-zu-sehen „Atomkraft nein danke, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose“ skandieren lässt. „Ihr seid blöd“, faucht Susha die beiden Männer an und bearbeitet mit wütender Energie weiter den Acker. Da tauchen Georgina und George mit einem Zweispänner auf. „Alles da, was ihr braucht?“ wird von George gefragt, was Hübsch-Dich-zu-sehen mit einem knurrigen „wir haben hier keinen Strom“ beantwortet wird. „Strom?“ George steigt vom Kutschbock. „Elektrizität. Antriebsenergie“, definiert Dich-zu-sehen, als müsse er einem Viertklässler die Grundlagen der Physik erklären. „Ist doch alles da“, entgegnet George mit einer alles umfassenden Bewegung seines linken Armes. Hübsch-Dich-zu-sehen und Khalil glotzen ihn verständnislos an, und der Rabenvater erklärt: „In der Atmosphäre befinden sich elektrisch geladene Teilchen, die jedoch in ihrem Zustand nicht für Energiegewinnung verwendbar sind. Erst zu diesem Zweck konstruierte Transformatoren können diese Teilchen in kinetischen Energie umwandeln.“ Hübsch-Dich-zu-sehen versteht gar nichts, Khalil auch nicht wesentlich mehr, und fragt deshalb nach. „Bewegungsenergie. Sie ermöglicht es, Elektromotoren zu betreiben, die wiederum Geräte wie Rasenmäher, Kreissägen und so weiter in Bewegung setzen.“ „Und wozu haben wir die Sonnenkollektoren auf den Dächern?“ „Für Licht, Musikanlagen, Kühlschränke… für alles, was keine Motoren benötigt.“ „Aber wie ist das möglich, ich meine…“ Hübsch-Dich-zu-sehen ist dabei, seine lange zurückliegenden Schulkenntnisse in Physik zusammenzukratzen. „Im Grunde funktioniert das Prinzip ähnlich wie der Gedankenspeicherapparat. Aber um das zu akzeptieren, kannst Du Dein Schulwissen getrost über Bord werfen.“ „So, Leute, ich mach Schluss für heute“, lässt da Susha verlauten, bringt das Gartenwerkzeug in einen neben ihrer Hütte aufgestellten Schuppen, schwingt sich auf ihr Rad und fährt zu ihrer Wohneinheit, hinterlässt dort die zur Orientierung notwendigen Notizen, und ist in ihrer Wohnung in dem Haus. Sie sitzt in einem halben Lotossitz auf dem mit Teppich ausgelegten Fußboden. Draußen hat es zu dämmern begonnen. Ein kräftig wehender Herbstwind bewegt das Geäst der vor dem Haus gepflanzten Büsche und von dem Baum. Die bis eben auf dem Hochbett schlafende Katze kommt die für sie angelegte Stiege hinab und tappt auf Susha zu. „Na, Persi, hast Du ausgeschlafen?“ Sie krault das Katzentier, welches wohlig zu schnurren beginnt. „Meine Persephone, meine süße Persephone“, flüstert die Frau dem Tier zu, das sich auf den Rücken gelegt hat und ihr die Pfoten entgegenstreckt. Sie war Susha nachgelaufen, als sie mit ihren Einkäufen vom nebenan befindlichen Supermarkt zurückkehrte. Wie immer stand ein Fahrzeug auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem zwei Männer saßen und das Tier argwöhnisch beäugten, als könne es sich um ein Krafttier oder etwas ähnliches in ihren Augen Widernatürliches handeln. Als die Katze bei ihr blieb, obwohl Susha die Wohnungstür aufließ und sie so jederzeit zu den Menschen zurückkehren konnte, bei denen sie vielleicht zuhause war, kaufte die Frau Dosenfutter, gab ihr einen alten Wollpullover als Liegeplatz und einen Namen. Als ihren Besitz jedoch sieht sie Persephone nicht an, ebenso wenig, wie sie irgend jemandes Besitz sein wollte. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Susha entzündet eine Kerze, gibt Persephone etwas zu fressen, bereitet für sich einen Salat zu, trinkt dazu einen Tee. Spät am Abend hört sie die schlurfenden Schritte von Hübsch-Dich-zu-sehen im Flur, wie er die Haustür abschließt und in seine Wohnung, die der ihren gegenüberliegt, zurückgeht. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses besuchen sich nicht, reden auch so gut wie gar nicht miteinander, grüßen sich, wenn sie sich im Hausflur begegnen, viel mehr aber auch nicht. Die Traumwelt ist der Ort, wo sie sich begegnen und miteinander agieren, ohne befürchten zu müssen, deswegen neuen Repressalien ausgesetzt zu werden. Alsbald wird Susha müde und klettert auf ihr Hochbett, während Persephone sich zu ihren Füßen einrollt.
Khalil hat seine Akustikgitarre durchgestimmt, Peter Burschs Gitarrenbuch aufgeschlagen vor sich liegen, greift ein amoll, ein Cdur, verhaspelt sich beim dmoll, fängt nochmal von vorne an. „There is a House in New Orleans, they call the rising Sun…“ Beim Fdur muss er spicken, legt seine Finger auf die entsprechenden Saiten, schlägt an, singt weiter „…it`s been the Ruin of many poor Men, and me, oh Lord, I´m one.“ Khalil gönnt sich eine Pause, stellt das Instrument beiseite, nimmt einen Schluck aus der Bierdose. „Unter Quarantäne stellen“, so lautete die Bezeichnung für das Vorgehen von der Organisation, die ihre Festsetzung hier in dem Haus veranlasste. Um welche Organisation es sich dabei handelte, bleibt im Dunklen verborgen. Es wurden Dienstmarken vorgezeigt, auf denen ein doppelköpfiger Adler zu erkennen gewesen ist. Als Khalil sich an den Einsatzleiter wandte mit der Forderung nach einem Anwalt, nickte dieser und sagte, er würde sich darum kümmern. Am Vormittag des darauffolgenden Tages klingelte es bei ihm, und vor der Tür stand ein junger Mann in Anzug und Krawatte, mit einem Aktenkoffer in der rechten Hand. Khalil bat ihn, hereinzukommen, fragte, ob er die Anderen hinzuholen solle, was der Anwalt als nicht unbedingt erforderlich erachtete und Khalil ganz recht war, da seine Mitstreiter sich zu dieser Zeit in der Traumwelt befanden. Dies nun dem jungen Mann zu erklären erschien ihm dem zu führenden Gespräch nicht zuträglich. Der Anwalt sagte, dass dies eine Art von Sicherungsverwahrung darstelle, die durchaus mit dem Gesetz vereinbar wäre, da es sich um eine Maßnahme handele, die unter anderem angewendet werden kann, wenn der Verdacht auf politisch motivierte kriminelle Handlungen besteht, in ihrem Fall aus einer religiösen Ideologie heraus. Als Khalil von dem ihm gegenübersitzenden Mann wissen wollte, auf welchen Handlungen dieser Verdacht beruhte, antwortete dieser ihm, dass ein Untersuchungsausschuss mit dem Fall betraut sei. Khalil fragte, wie lange sie denn damit rechnen müssten, bis dieser Verdachtsmoment sich als unbegründet erweisen würde. Der Anwalt versicherte ihm, an dem Fall dranzubleiben und ihn zu informieren, sobald es Neuigkeiten gäbe. Während des Gesprächs machte der Anzugträger auf Khalil nicht den Eindruck, dass von ihm ausreichend Unterstützung zu erwarten wäre, da es dem jungen Mann erstens aufgrund seines Alters an Berufserfahrung fehlte und zweitens Khalil keine Persönlichkeit wahrnehmen konnte, was auf ein mangelndes Selbstbewusstsein schließen ließ. Als Khalil darauf hinwies, dass er und auch Georgina berufstätig seien, bekam er als Antwort zu hören, dass die Arbeitgeber entsprechend informiert worden seien. ‚Na toll‘ dachte sich Khalil daraufhin, und als der Anwalt auf seine Armbanduhr schaute und damit das Ende dieses Besuches signalisierte, fasste Khalil spontan den Entschluss, etwas zu versuchen. Er sprach von der Idee, die nun so unerwartet zur Verfügung stehende Zeit sinnvoll zu nutzen, und Gitarre spielen lernen zu wollen. Leider ist es ihm und auch seinen Mitbewohnern (beinahe hätte er ‚Mitstreiter‘ gesagt, was bestimmt verdachtsbestätigend geklungen hätte, auch in den Ohren des bestellten Anwalts) nun nicht gestattet, das Haus, außer zu Einkäufen im Dorf, zu verlassen. Und von daheraus stellte er die Frage, ob sein, oder besser: ihr aller Anwalt vielleicht den Gefallen erweisen möchte, so ein Musikinstrument, eine akustische Gitarre, zu besorgen. Mit dieser Bitte fand Khalil tatsächlich Gehör, da der junge Mann, wie er sagte, selber in einer Band spiele, und auf die Rückfrage von Khalil tat er kund „Death Metal, so in die Richtung.“ Khalil hatte nun nicht erwartet, damit Erfolg zu haben, genau so wenig, wie er es erhofft hatte. Es war lediglich das Wollen gewesen, was zum Erfolg führte. Das ist so ähnlich wie wünschen, funktioniert jedoch anders. Vielleicht wird es im Laufe der Geschichte noch eine Situation geben, die den Unterschied verdeutlicht. Khalil ergreift noch einmal das Instrument (es handelt sich um eine Hoyer mit einer Buchse für Verstärkeranschluss), spielt das Lied (fast) fehlerfrei durch, zeigt sich zufrieden damit, entschließt sich dazu, noch Fernsehen zu gucken, (das Gerät steht jetzt im Wohnzimmer auf einem Sideboard; der Einkaufswagen wurde entfernt) und sich noch eine Pizza aus dem Tiefkühlfach zuzubereiten.
Georgina und George sind aus der Traumwelt zurückgekehrt. George schaltet den Fernseher ein. Dies ist ihnen als Verbindung zur Außenwelt zugestanden worden; Telefone und Internet gibt es in dem Haus nicht. „Mal schauen, was es Neues gibt in der Welt…“ Georgina hat gerade geduscht; nun steht sie, bekleidet mit einem blauen Seemannspullover und Tigerleggins, im Türrahmen. Ihr blond gefärbtes Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. „Kommt doch eh nur das, was wir glauben sollen.“ „Meinst Du?“ „Ja, klar! Oder denkst Du etwa, da wird die Wahrheit erzählt?“ George zuckt mit den Schultern. „Wer weiß schon, wie die Wirklichkeit aussieht…“ Georgina lacht kurz auf. „Das weiß ich nicht. Aber die Realität könnte meiner Ansicht nach besser sein. Trinkst nen Kaffee mit?“ „Mit Milch, ja.“ Georgina verschwindet in der Küche, kehrt mit zwei Bechern zurück, reicht einen davon dem Rabenvater. „Danke Dir.“ Der eingeschaltete Sender überträgt eine Literaturveranstaltung aus der Frankfurter Batschkapp. Gerade liest Hadayatullah Hübsch. „Fünfzehn Minuten hinter Oldenburg wache ich plötzlich auf, der olle VW-Bus schliddert gefährlich über die Straße. „Was ist los?“ schreie ich, „bin grad mal ein bisschen eingeschlafen“, sagst Du fröhlich. Zeit für einen Kaffee und ich werfe die Kassette Velvet Underground live in Hamburg ein, und wir sind mitten drin in einem Geheul. „Das klingt wie ne Steinsäge, die durch Granit fährt“, brüllst Du. In der Tat, ‚all tomorrows Parties‘ ist fast nicht zu hören. Irgendetwas stimmt nicht mit der Aufnahme. Egal, wir lassen uns Löcher in die Zähne bohren. Keine drei Minuten später Raststätte Fernwald…“ „Der Typ sieht ja aus wie Hübsch-Dich-zu-sehen!“ ruft Georgina überrascht aus. „Deswegen habe ich ihm ja auch den Namen gegeben.“ Hadayatullah Hübsch hat zuende gelesen. Ein weiterer Schreibender betritt die Bühne, der als K 27 angekündigt wird. Er trägt eine erdfarbene Djellaba, um den Kopf gewickelt hat er sich ein indigofarbenes Tuaregtuch, und die Augen sind durch eine Ray-Ban-Sonnenbrille verdeckt. „Ist da einer von denen dabei, die wir in Berlin gesehen haben?“ „Ich glaube nicht, nein.“ „Glaubst Du, oder weißt Du es?“ „Außer den Hübsch kenne ich da jetzt keinen.“ „In Berlin haben wir ja auch keinen gekannt – außer Khalil.“ „Stimmt. Vielleicht tritt ja noch einer von ihnen da auf.“ „ …Als unausgesprochene Gedanken treffen auf Erinnerungen einer völlig anders erlebten Vergangenheit unter beständigem Beschuss der Synapsen mit kontinuierlich wechselnden Raum-Zeit-Verzerrern läßt das Jetzt zu einer Gebärmutter mit warmem Fruchtwasser gefüllt schwimmt D.B. in sich selbst versunken slide-guitar spielend ist er verbunden durch an den Schädel punktierte Drähte senden codierte Signale an die Außenwelt windet sich in der Agonie des sich ständig Wiederholens müde gibt der Schriftsteller sich in Tanger den Todesstoß mit der Nadel fließt ein Wortschwall auf das weiße Papier…“ „Weißt Du eigentlich, was mit der Wohnung über uns ist?“ „Was soll damit sein?“ „Na, ob da jemand wohnt.“ „So viel ich weiß, nicht. Zumindest habe ich da noch niemanden gesehen…“ „Was nichts heißt. Wir begegnen ja so gut wie keinem hier im Haus.“ „Reicht doch, wenn wir uns drüben sehen.“ „Drüben? Ach so, ja. Stimmt.“ Georgina nimmt einen Schluck vom Instantkaffee, beginnt, sich eine Zigarette zu drehen. „Was gibt es denn sonst heute noch in der Glotze?“ „Nachher zeigen se noch ‚Der Tag, an dem die Erde stillstand‘, was Georgina „Michael Rennie was ill, the Day the Earth stood still“ anstimmen lässt. George muss kurz überlegen, kann dann weitersingen: „and Flash Gordon was there, in silver Underwear, dadada was the invisible Man…“ „…Then something went wrong, for Fay Wray and King Kong, they caught in a celluloid…Dream?“ Und dann weiter, im Duett: „At the late night, double Feature, Picture Show…“ Lachend umarmen sich die Beiden, wischen Tränen fort, und dann schaut Georgina ihrem Freund, ihrem Vertrauten in die Augen und spricht, leise aber bestimmt: „es wird alles in Ordnung kommen. Wir müssen es nur wollen.“ Und George stimmt ihr zu mit einem stummen Nicken.
Hübsch-Dich-zu-sehen ist mit dem letzten noch abends verkehrenden Linienbus zur Kleinen Stadt gefahren, hat bei dem Kulturhaus vorbeigeschaut, doch dort findet keine Veranstaltung statt, und ist dann weiter zur Kneipe gegangen. Beim Wirt ersteht er eine Flasche Bier, setzt sich an einen Tisch in die rechte hintere Ecke. Don Pedro hat eine Kassette mit lateinamerikanischer Musik eingelegt. Drei Jungs betreten den Schankraum, versammeln sich um den Billardtisch, spielen, so meint Dich-zu-sehen aus ihren Andeutungen herauszuhören, um ein Tütchen psychoaktive Pilze. Noch drei weitere Gäste kommen an diesem Abend hinzu. Einer setzt sich an die Theke, bestellt Bier vom Fass, trinkt schweigend. Die beiden anderen nehmen an einem der Tische platz. Dich-zu-sehen kennt sie nicht. Ihre Gespräche drehen sich um Belanglosigkeiten, und als der Mann für sich entscheidet, dass dort nichts mehr zu erwarten ist, bricht er auf Richtung Bahnhof. Leichter Nieselregen hat eingesetzt, als ein PKW an ihm vorbeifährt und am Straßenrand hält. Die Seitenscheibe wird heruntergekurbelt, aus der Dunkelheit des Wageninneren dringt eine Stimme: „Erzähl! Hast Du schon was in Erfahrung bringen können?“ Rafael ist stehen geblieben, die Hände stecken in den Taschen seiner Jacke, den Kopf hält er leicht nach vorne gebeugt, so, als trage er eine Last auf seinen Schultern. „Nein.“ „Wie bitte?“ Rafael Kellner räuspert sich. „Nein, bislang noch nichts.“ „Das ist nicht gut.“ Der Sprecher hat seiner Stimme eine bedauernde Färbung gegeben. „Auch wir müssen Bericht erstatten. Und unser Auftraggeber erwartet Ergebnisse. Hast Du das verstanden?“ „Ja.“ „Gut.“ Die Scheibe wird wieder hochgekurbelt, der Wagen fährt an, und Hübsch-Dich-zu-sehen setzt seinen Weg fort. In der Wohnung im Haus angekommen setzt er sich auf das Sofa, starrt vor sich hin. An dem Abend in der Arztpraxis ist ihm ein Teil seiner Lebensenergie abhanden gekommen. Als wäre sie abgesaugt worden durch den Apparat, an den der eine Agent ihn angeschlossen hatte. Mit der Hilfe seiner Gedanken konnten sie den Aufenthaltsort von Khalil, George und Georgina ausfindig machen. Kurz darauf ging Susha ihnen ins Netz; auch sie bekam, ebenso wie George und Georgina, eine der zwischenzeitlich freigeräumten Wohnungen zugewiesen. Und auch Rafael wurde dorthin umgesiedelt. Diego jedoch konnten sie nicht habhaft werden. Als eine Einheit seine Wohnung stürmte, war er bereits auf und davon. Seitdem hält er sich versteckt, und es ist ihnen nicht möglich, ihn zu orten. So wird sich ein Mensch fühlen, der mit einem Voodoozauber belegt worden ist, kommt es Rafael Kellner in den Sinn. Er ist dazu verdammt, den Befehlen seines Meisters zu folgen. Rafaels Befehle lauten, die anderen im Haus zu bewachen, und den Aufenthaltsort von Alexander Tagthetruth herauszufinden. Nach Ansicht seiner Auftraggeber stellt dieser ebenfalls eine Gefahr dar. Für die Ordnung. Die Aufgabe der Geheimgesellschaft ist es, dafür zu sorgen, dass diese Ordnung aufrecht erhalten bleibt. Und dass in diesem Zusammenhang die Gesetzmäßigkeiten weiterhin anerkannt werden. Würden die Gesetze von den Menschen angezweifelt, bekam Rafael gesagt, bräche ein Chaos aus, in dem die bestehende Zivilisation versinken würde. Und dies müsse mit allen Mitteln verhindert werden. Der Mann weiß nicht mehr, was er glauben soll; was richtig ist und was falsch, was Lüge und was Wahrheit ist. Aber eines weiß er: dass er in Frieden leben möchte, ohne Angst haben zu müssen vor irgendeiner Bedrohung. Dass es wieder so werden möge wie in der Zeit zuvor, bevor diese Mächte in sein Leben getreten sind. Und dafür ist er bereit, alles zu tun…
Alexander Tagthetruth ist unterwegs im Schutz der Nacht. Den Mond und die Sterne haben Wolken verdeckt; die Straßenbeleuchtung ist ausgeschaltet. In den Seitenstraßen ist um diese Zeit niemand anderes unterwegs. Alexander hat wieder Signale empfangen können, die ihn leiten. Er kommt zu einem Haus, öffnet leise die Pforte der Einfahrt, schließt sie wieder hinter sich. Vorsichtig pirscht er weiter, gelangt zu einer Treppe an der Seitenwand des Hauses. Die Signale sind hier intensiv. Alexander schließt die Augen, steigt mit angehaltenem Atem die Stufen hinab, drückt eine Klinke herunter, findet die Kellertür geöffnet vor. Alex` Herz pocht vor Aufregung, seine Stirn und die Hände sind schweißfeucht. Durch die Kraft einer Zugfeder schließt sich die Tür mit einem leisen Klacken. Alexander lauscht, starrt in die Dunkelheit, zuckt zusammen, als er eine Heizungstherme anspringen hört. Fest umfasst er mit der rechten Faust die Nagelschere, mit der er sich zu Wehr setzen würde, falls dies eine Falle sein würde und sie ihm hier auflauern sollten. Schritt für Schritt bewegt er sich vorwärts, ertastet eine Tür, öffnet sie. Ein merkwürdiger Geruch zieht ihm in die Nase. Als er den Lichtschalter betätigt, wird er Regale mit Einmachgläsern und anderen dort gelagerten Vorräten angesichtig. So schließt er die Tür wieder, pirscht weiter den Gang entlang, öffnet eine weitere Tür, bleibt im Türrahmen stehen, bereit, seine Waffe herauszureißen und auf irgendwelche aus der Dunkelheit kommenden Gestalten einzustechen. Aber er sieht dort lediglich etwas blinken. Zwei kleine Lämpchen, eine blau, die andere rot. Wie ein Signal. Sie haben ihr Ziel erreicht, oder so. Mit der linken Hand findet Alexander einen Drehlichtschalter, betätigt ihn, und der Raum wird von einer Deckenlampe erhellt. Ziemlich genau in der Mitte des Kellerraumes steht auf Europaletten und Autoreifen gelagert der Samadhitank. Der Besucher geht darauf zu, bleibt vor dem eiförmigen Gebilde stehen, setzt das Headset auf . Durch die Kopfhörer dringt ein leises Rauschen, Knacken und Fiepen an seine Ohren, wie es auf der Langwellenfrequenz im Radio zu hören ist. „Hallo? Diego? Bist Du da?“ Eine Weile geschieht nichts weiter, und dann vernimmt Alex durch das Rauschen eine Stimme. „Bist Du das, Alex?“ „Ja. Ja, ich bin´s.“ „Hast Du aufgepasst, dass Dir niemand gefolgt ist?“ Nein, hat Alex nicht. „Ich glaube nicht, nein.“ „Glauben heißt nicht wissen, mein Freund. Aber jetzt wäre auch nichts mehr daran zu ändern.“ „Wer sind diese…diese…?“ Tagthetruth fällt keine Bezeichnung ein. „Letztlich sind es nur Erfüllungsgehilfen einer ihnen übergeordneten Macht.“ „Das Böse?“ versucht sich Alex in einer Interpretation, worauf er tatsächlich ein Lachen aus den Ohrhörern kommen hört. „Mit dem Bösen verhält es sich wie mit dem Guten: in jedem Guten steckt auch ein bisschen Böses, nicht wahr?“, was der Junge vehement verneint: „Ich hasse alles Böse! Und Georgina und George sind durch und durch gute Menschen…“ Und nach kurzem überlegen anfügend „…und der Khalil bestimmt auch!“ Wieder wird seine Äußerung mit einem Lachen quittiert; diesmal jedoch klingt es wohlwollend. „Selbstverständlich! Deswegen habe ich sie ja gesucht… und gefunden.“ „Aber warum?“ „Was warum? Ich sie gesucht habe, oder warum ich sie gefunden habe?“ Alexander starrt auf die abwechselnd blinkenden Lämpchen des Floatingtanks. „Ääh…beides.“ „Beginnen wir mit der zweiten Frage: WIE habe ich sie gefunden? Einfach war es nicht, ihre Gehirnwellen aus den Millionen von Gedanken herauszufiltern, die mich hier im Tank erreichen. Das ist wie die berühmte Nadel im Heuhaufen… nein, anders: die richtigen Fische in einem riesigen Schwarm erkennen.“ „Aber ich verstehe das nicht.“ „WAS verstehst Du nicht?“ „Gehirnströme sind doch elektromagnetische Wellen. Und die…“ Alexander sortiert sein bruchstückhaftes Wissen, „…gehen doch nicht über den Kopf eines Menschen hinaus!“ „Sagt wer?“ Alex berichtet von dem Gespräch mit Faktor 4. „Na, dann wird es ja wohl auch so stimmen.“ „Aber ich habe… diese Gedankenwellen doch empfangen!“ „Ach ja?“ „Und dann ist da ja auch noch dieser Apparat.“ „Genau, ja. Der Traumaufzeichner. Fast vergessen. Du bist übrigens gerade daran angeschlossen.“ „Was?“ „Bleib ruhig Alex, mein Junge! Wie soll ichs Dir verständlich machen? Also: auf der einen Seite ist da die Wissenschaft, mit ihren Gesetzen und Formeln und Messapparaten, mit denen sie die Welt erfassen. Die Wissenschaftler sagen, nach diesen Gesetzmäßigkeiten funktioniert die Welt. Und mit den von ihnen entwickelten Messapparaten können sie dies bestätigen. Soweit alles klar?“ Alex bestätigt mit einem Nicken. „Alex?“ „Ja. Klar.“ „Gut. Und dann gibt es Menschen, die glauben, beispielsweise, an einen Gott. Oder auch an mehrere Götter. Und sie glauben an die Wiedergeburt, oder dass ihre Seele in den Himmel kommt. Jedoch gibt es für all diese Behauptungen keine Beweise…“ Es folgt eine Pause, in der Alexander gespannt wartet, wie es weitergeht. „…Und dann gibt es Leute wie uns, die sozusagen sich zwischen den Lagern befinden.“ „Zwischen den Lagern?“ „Ja. Wir nehmen etwas wahr, was es laut den Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaft nicht gibt, nicht zu geben hat, weil sie es mit ihren Messgeräten nicht nachweisen konnten… bislang jedenfalls nicht.“ Wieder gibt es eine Pause, und Tagthetruth meint, in dem Rauschen und Knacken das Summen einer Melodie zu vernehmen. Unvermittelt setzt die Stimme von Diego wieder ein. „Aber im Gegensatz zu Wissenschaft und Religion haben wir etwas wahrgenommen, ja sogar gesehen!“ „Was gesehen?“, fragt Alex nach, und erhält als Antwort, die Traumkörper von Georgina und George zum Beispiel. „Und von dem Khalil“ ergänzt Alex. „Sagt Dir der Name Mauro etwas?“ „Wer ist das?“ „Mauro… mir fällt der Vorname… Daniel. Daniel Mauro. Der Geschichtenschreiber.“ Da fällt bei Alex der Groschen. „Die Hefte!“ erinnert Alexander sich da, „er hat damals diese Hefte verfasst!“ „Wo wir bei dem Warum wären?“ „Warum?“ „Ja. Warum Du jetzt hier bist. Weil ich Deine Hilfe benötige, Alex. Georgina, George, Khalil und Hübsch-Dich-zu-sehen sind in einem Haus festgesetzt worden, von diesen, ich nenne sie jetzt mal: Geheimagenten. Und da kommst Du mit Deinen Freunden ins Spiel: ihr sollt die Agenten eine Weile ablenken, damit die Fünf in dem Haus das Siegel des Salomon bilden können.“ Auf die Frage, was dies ist, bekommt Alexander die unwirsche Antwort, dass für Erklärungen gerade nicht die Zeit sei. Denn sie müssen dieses Ablenkungsmanöver möglichst schnell in die Wege leiten, an einem vorher verabredeten Tag. „Und nun setz Deinen Hintern in Bewegung und unternimm was. Triff Vorbereitungen und Leute…“ Es knackt, als sei die Verbindung unterbrochen worden, aber dann ertönt noch einmal Diegos Stimme: „Und nimm den Traumaufzeichner mit! Damit kannst Du versuchen, die Skeptiker zu überzeugen. Aber übertreib es nicht.“ Damit ist das Gespräch beendet. Alexander nimmt den Aufzeichnungsapparat, steckt ihn in seine Messenger-Bag und setzt seinen Weg fort.
Khalil sitzt am Küchentisch und schreibt an der Geschichte weiter. Die Geräusche der elektromechanischen Schreibmaschine und das Rauschen des Herbstwindes in den Bäumen üben eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Dies hilft ihm dabei, seine Gedanken zu sortieren. Mitunter ist Khalil sich nicht sicher, ob er sich richtig erinnert. Er hält sich für einen unzuverlässigen Erzähler. Das Adjektiv unzulänglich ist auch anwendbar. Khalil ist sich im Klaren darüber, warum er sich dazu entschieden hat, hierzubleiben. Aber das ändert nichts an der momentanen Situation. Und auch stellt sich die Frage, ob sein Doppelgänger die Botschaft erhalten hat, und wie er darauf reagieren wird. Selbstverständlich wird die Geheimgesellschaft davon Wind bekommen, wenn sein Doppelgänger den Entschluss fasst, hierher zurückzukehren und das Haus aufzusuchen. Wenn er die Signale richtig zu deuten versteht, wird er hoffentlich abwarten, bis eine Veränderung der Situation eingetreten ist. ‚Es ist Zeit, sich um die Pferde zu kümmern‘ fällt Khalil ein, und er verlässt die Küche, begibt sich in die Wohneinheit der zweiten Ebene, geht dort die Stufen hinab ins Erdgeschoss, drückt die Glastür auf und hält sich links, wo sich die Stallungen befinden. Die Pferde, es sind fünf, drei Hengste und zwei Stuten, sind in klassischen Boxen untergebracht, mit Stroh als Auslage, Futtertrog und Wasserspender. Licht kommt durch großzügig bemessene Fenster herein. In den Stallungen stehen auch die Kutschen, zwei Einspänner und ein Zweispänner, die über Ladeflächen für Transporte verfügen. Khalil kontrolliert die Futterbehälter, greift sich einen in der Ecke stehenden Hafersack, füllt, wo Bedarf besteht, die Tröge auf. „Nachher kommt die Susha noch und reitet mit Dir aus.“ Susha kümmert sich um zwei Pferde, eine Stute und einen Hengst. Ananke und Phanes. Es hat sich ziemlich schnell herausgestellt, dass Hübsch-Dich-zu-sehen keinen Bezug zu den ‚Viechern‘, wie er sie nennt, herstellen konnte. Khalil hat seinen Hengst Salvadore genannt, als Verbindung zu Dali, dessen Bilder er faszinierend findet. Bei Salvadores Box ist er jetzt angelangt, öffnet die Tür, schnappt sich eine Bürste und beginnt, das Tier zu striegeln, dabei „ja, mein Feiner, gut, mein Dicker“ raunend. Dabei kommt Khalil ein Lied in den Sinn, und er summelt die Melodie vor sich hin, erinnert sich dadurch an eine Motorradfahrt im Juni, bei dem Treckernomaden auf dem Rücksitz. Sie waren unterwegs nach Hamburg; Khalil hatte Mikesch eine Karte für das Konzert zum Geburtstag geschenkt. Im Vorraum zur Konzerthalle begegnete er einem Herrn, der sich als ‚Peter Voss, der Millionendieb‘ vorstellte, und der vorhatte, das Konzert mit der Hilfe eines Diktiergerätes mitzuschneiden, das er an den Eingangskontrollen vorbeischmuggeln wollte. Khalil hegte berechtigte Zweifel, dass dem Mann dies gelingen würde. Ein paar Wochen darauf fand er in seinem Briefkasten eine Postsendung, in der sich zwei Musikkassetten befanden mit dem Mitschnitt des Velvet Underground-Auftritts in der Alsterdorfer Sporthalle an jenem Abend. Der Millionendieb hatte es tatsächlich geschafft! „Grüß Dich, Khalil!“ Er schaut aus der Box heraus, erblickt die Frau, fragt: „Georgina Ponee?“ „Woran hast Du mich erkannt?“ will das Ponee wissen. „Na, an Deiner Frisur. Und Du bewegst Dich auch anders.“ Georgina hat die Box betreten, streichelt Salvadore. „Und? Hast Du die Schleuderhefte gefunden?“ „Die was? Ach so, ja. Ich habe dabei herausgefunden, dass es uns hier nicht möglich ist, Kinder zu zeugen.“ „Nein? Dann brauchen wir ja auch gar nicht zu verhüten…“ Die Frau steht ganz nah bei Khalil. Ihre Finger streifen wie zufällig seine Hand. „Was hältst Du von einem sportlichen Match auf dem Zweispänner?“ „Ich weiß nicht… Susha könnte jeden Augenblick hereinkommen.“ „Na, und? Wir können ja auch zu dritt spielen.“ Da fällt Khalil ein, was er das Ponee fragen will. „Weißt Du eigentlich, woher der Mann gekommen ist, da im Schlafzimmer? Bei unserer zweiten Traumreise?“ Da legt Georgina einen Zeigefinger auf ihre Lippen, deutet dann damit nach oben, signalisierend, dass sie auch hier belauscht werden können. Dann antwortet sie leichthin „irgendein Typ, den ich mir im Traum vorgestellt habe…“ Khalil bestätigt diese Interpretation mit einem Kopfnicken, sagt „das habe ich mir auch so gedacht.“ Georgina möchte nun wissen, welches der Pferde zu ihrer Schwester gehört. Khalil deutet zu der nebenliegenden Box. Georgina öffnet die Tür, fragt nach dem Namen des Hengstes, beginnt, das Zutrauen des Tieres zu gewinnen. „Cassius.“ „Wie der Boxer?“ „Kann sein, ja.“ Die Frau schnappt sich einen der an der Wand aufgehängten Sättel und legt ihn Cassius auf. „Kommst Du mit?“ „Reiten ist nicht so mein Ding.“ „Habe ich mir fast gedacht…“ Georgina Ponee führt das Pferd zum Tor hinaus, sitzt draußen auf und reitet hin zu dem nicht weit entfernten Wald. Khalil indes striegelt Salvadore zuende, und spürt, dass er gleich wieder in das Haus zurückkehren muss.
Susha hat, nachdem sie aufgewacht ist, geduscht, sich angekleidet, Persephone Fressen in den Napf getan, und danach für sich ein Müsli und einen Tee zubereitet. Nun sitzt sie am Küchentisch, versucht, die auf sie eindringenden Energieströme zu bewältigen. Die haben sie nicht weggeleitet, es wahrscheinlich gar nicht erst versucht oder auch bewusst so gelassen. Vielleicht liegt es aber auch nicht in ihrer Macht, daran etwas zu ändern. Aber ihre Gedanken zu kontrollieren bekommen sie hin. Dass sie sich nicht mehr in Krafttiere verwandeln können. Und dass sie sich nur noch zeitlich begrenzt in der Traumwelt aufzuhalten haben. Verbindungen zu Diego und Alexander Tagthetruth aufzunehmen ist ihnen auch nicht mehr möglich. „Scheiße!“ Susha hat aufgegessen, trinkt den Tee aus, spült Geschirr und Besteck sauber. Sie sind gewissermaßen kaltgestellt. So wie Strafgefangene auf einer Insel dürfen sie sich in einem vorgegebenen Rahmen bewegen, in dem sie keine Gefahr darstellen. Denn nach Ansicht der Gesellschaft können sie gefährlich sein für Diejenigen, die dem Dämon Mammon dienen. In ihrem Auftrag handelt die Gesellschaft. Und sie glauben sich im Recht; die Wissenschaft spricht von einer der Natur entsprechenden Gesetzmäßigkeit, und für die Kirche ist es Gottes Wille. „Scheiße!“ Susha schlägt mit der Faust auf den Tisch, was das Katzentier zusammenzucken lässt. „Tut mir leid, Persi, ich wollt Dich nicht erschrecken.“ Sie hebt die Katze auf ihren Schoß, streichelt sie, was beruhigend wirkt. Auf sie beide. Die Wohnungstürklingel wird betätigt. Susha benötigt einen Moment, bis sie sich erinnert, was dies zu bedeuten hat. Persephone ist beim Ertönen des für sie neuen Geräusches Susha vom Schoß gesprungen. „Wer kann das sein?“ fragt Susha, und da niemand in der Nähe ist, ihr diese Frage zu beantworten, entschließt sie sich, nachzuschauen. Im Flur beim Hauseingang steht ein Mann mit Arbeitskleidung, stellt sich mit einem gewinnenden Lächeln als „Bezau von den Stadtwerken“ vor, und fragt, nachdem er einen Blick auf den von einem Klemmbrett gehaltenen Zettel geworfen hat „Sie sind Frau Dreiebner?“ Susha beantwortet die Frage mit einem Nicken. „Ich soll bei Ihnen die Wasseruhren ablesen.“ „Die Wasseruhren?“ „Ja. Die Zähler für den Wasserverbrauch. Zur Berechnung für den Kostenträger…“ Unterdessen hat sich Persephone dem Mann genähert, umstreift seine Beine, was diesen veranlasst, sich niederzuhocken und das Tier zu kraulen. „Ja, Du bist aber eine Schönheit.“ Dies überzeugt Susha von den drei Ebenen, dass der Mann nicht in bösen Absichten gekommen ist, sondern tatsächlich die Wasseruhren ablesen will. „Ja, dann kommen Sie doch herein.“ „Danke. Es wird auch schnell gehen.“ Der Herr Bezau folgt Susha in die Wohnung. „Wenn Sie so freundlich sind mir zu zeigen, wo das Bad ist.“ „Das Bad?“ Der Mann, Susha schätzt ihn auf Mitte Zwanzig, vielleicht auch jünger, strahlt sie weiterhin an. „Und die Küche. Dort befinden sich die Wasserzähler.“ „Ach so, ja.“ Susha öffnet das Bad, zeigt auf die Tür gegenüberliegend. „Und dort ist die Küche.“ „Danke“. Herr Bezau kniet sich unter dem Waschbecken nieder, macht Notizen. Persephone indes hat das Interesse verloren und ist auf das Hochbett gestiegen. „Möchten Sie vielleicht etwas trinken?“ Es wird kurz überlegt, dann: „gerne, ja.“ „Ich kann einen Tee machen.“ Der sich als Stadtangestellter Vorgestellte begleitet die Frau in die Küche. „Was für einen Tee würden Sie denn trinken wollen?“ Da muss Susha nicht lange überlegen: „Kirschblütentee.“ Der Mann nickt, öffnet die Tür unter der Spüle, schreibt die Zahlen von der dort angebrachten Wasseruhr ab. Susha, neben ihm stehend, befüllt den Wasserkocher. Während sich das Wasser erhitzt, tut Susha aus einer Blechdose getrocknete Blüten in die Teekanne. Herr Bezau ist mit seiner Arbeit fertig, hat am Küchentisch Platz genommen. „Wohnen Sie in der Kleinen Stadt?“ wird er unvermittelt von Susha gefragt. „Nein, ich wohne in der Großen Stadt, und noch dahinter.“ „Aha.“ „Wenn Sie wollen, können Sie mich Bernd nennen.“ „Gern. Ich heiße Susha.“ „In meiner Freizeit male ich.“ „Oh, tatsächlich. Was denn?“ „Nun, wie soll ich es sagen? Ich male Träume auf.“ „Träume. Ihre eigenen?“ Nein. Es sind die Träume von Anderen.“ „Woran glauben Sie dies zu erkennen?“ „Das ist schwer zu beschreiben. Vielleicht stellen sie Botschaften von den Träumenden dar.“ „Kommen Sie in den Träumen vor?“ „Nein. Nie. In den Träumen bin ich der Betrachter.“ Der Tee hat fertiggezogen; Susha füllt durch ein Teesieb hindurch zwei Becher. „Möchten Sie Honig dazu?“ „Ich probier mal eben.“ Bernd nippt und winkt ab. „Schmeckt sehr gut so.“ Susha setzt sich ihm gegenüber, trinkt aus ihrem Becher, ebenfalls ungesüßt. „Also: wer sind Sie wirklich? Wie heißen Sie und wer schickt Sie?“ Der Mann ist so überrumpelt, dass er ins Stottern gerät, beim Leugnen und Zurechtbiegen, doch dann rückt er es tatsächlich raus: „Ich heiße Elias. Mein Nachname ist für den Augenblick nicht wichtig. Mein Vater ist ein ziemlich hohes Tier bei der Geheimgesellschaft. Der gleichen Geheimgesellschaft, die für eure Einknastung hier verantwortlich ist. Aber ich hab damit nichts zu tun, verstehst Du? Ich halte ihr Vorgehen für nicht richtig…“ Susha ist aufgestanden, den Blick abweisend auf Bernd-Elias gerichtet haltend, spricht sie „es ist jetzt wohl besser, wenn Du gehst.“ Der Mann erhebt sich ebenfalls vom Stuhl. „Warte, nein! Bevor Du über mich urteilst, lass mich Dir noch meine Bilder zeigen…“ „Wozu? Was soll das? Ich kann hier nicht weg.“ „Ich werde wiederkommen und Fotografien mitbringen. Bitte…“ Dabei schaut er sie so voll der Hoffnung an, dass Susha schließlich zustimmt. „Wann?“ Die Frau zuckt mit den Schultern. „Ich bin ja immer da…“ „Gut. Dann werde ich gleich morgen wiederkommen.“ „Und die Männer? Sie lassen das so einfach zu?“ „Aber ja. Ich hab doch einen Ausweis.“ „Ach so, ja. Du gehörst ja zu denen.“ Augenblicklich verschwindet das Lachen aus seinem Gesicht. „Nein, Susha. Wie ich Dir schon sagte: ich habe mit dieser Gesellschaft nichts zu tun.“ „Du hast auch gesagt, dass Du von den Stadtwerken kommst…“ Elias kichert lausbübisch, dann macht er ihr Date fest: „Also bis morgen…Nachmittag?“ „Ja gut, einverstanden.“ Der Mann wendet sich zum gehen, hätte sein Klemmbrett vergessen, bekommt es aber von Susha nachgereicht, „Bis morgen!“ Susha greift sich ihren Becher, trinkt den Tee, und weiß nicht recht, was sie von der ganzen Sache halten soll.
Georgina und George haben ihr Pensum an Gartenarbeit erledigt, sitzen nun in der Hütte von Georgina, bevor sie sich in ihre Wohneinheiten und von dort aus in das Haus zurückbegeben müssen. Die Taubenfuß nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, die sie zuvor aus der Wohneinheit mitgenommen hat. George trinkt Saft. „Wird es die Traumkörper nach dem Tod eines Menschen weitergeben?“ fragt Georgina unvermittelt ihren Partner. „Vielleicht. Bislang gibt es keine… Beweise dafür.“ „Aber ich möchte daran glauben, dass es sie nach unserem Tod weiterhin gibt.“ „Ich denke, der Glauben daran ist etwas Positives und kann Dir Kraft geben.“ „Aber wenn es doch nun nicht wahr ist?“ „Letztlich verhält es sich damit wie mit Gott oder Paralleluniversen.“ „Wir aber wissen, dass es Traumkörper gibt – weil wir sie sehen.“ „Ist also nur das existent, was Du auch siehst?“ stellt nun George eine Frage. „Auch eine Blume in der Wüste ist existent, auch wenn ich sie nicht betrachten konnte.“ „Aber woher weißt Du, dass es sie gibt?“ „Vielleicht, weil jemand darüber berichtet hat. Oder ich habe eine Abbildung davon gesehen.“ „Sind wir denn nicht auch Abbilder?“ „Du meinst die Traumkörper?“ „Ich spreche von mir als Traumkörper, ja.“ „Können wir sicher sein, dass es uns wirklich gibt?“ „Ich sehe Dich.“ „Und wenn Du Dir nur vorstellst, dass Du mich siehst?“ „Umgekehrt auch?“ „Ja, selbstverständlich. Wir befinden uns in einem gemeinsamen Traum.“ „Der wo stattfindet?“ „Das weiß ich nicht. Das Naheliegendste ist wohl, zu behaupten, die Träume finden in unseren Köpfen statt…“ „Aber es muss ein ‚Dazwischen‘ geben, dort, wo sich unsere Gedankenwellen…treffen? Verbinden?“ „Und wo sind unsere Traumkörper, wenn wir wach sind?“ „Ich weiß es nicht.“ „Und wenn es sie nur gibt, wenn wir bewusst träumen – so wie jetzt?“ „Dann werden sie auch nach unserem Ableben verschwinden.“ „Aber ich will, dass es die Energie, aus der sie bestehen, auch nach dem Tod weiterhin gibt.“ „Und was glaubst Du, wie lange?“ „Je nachdem, wieviel Energie der Mensch zu Lebzeiten ansammeln konnte…“ Georgina leert die Flasche, rülpst. „Also los, Rabenvater! Machen wir, dass wir zurückkommen…“ „Und wenn nicht?“ Diese Frage lässt Georgina aufseufzen. „Ich möchte es nicht noch einmal erleben, was ich wegen diesem Zwicker durchgemacht habe! Während dieser Verhöre sind sie so tief in mein Bewusstsein vorgedrungen, bis sie die Erlebnisse aus meiner Kindheit hervorgeholt haben.“ „Verzeih, Georgina. Das war unbedacht von mir…“ Die beiden gehen zu dem Zweispänner und fahren zurück zu Georginas Wohneinheit, setzen sich dort auf das Bett, schließen ihre Augen, und sind wieder in dem Haus. Georgina steht von dem Bett auf, „Georgina, ich…“, schüttelt den Kopf und verlässt den Raum. George bleibt dort zurück, will die anwachsende Verzweiflung niederkämpfen darüber, dass der Riss zwischen ihnen immer tiefer zu werden droht. Es ist die Unzufriedenheit über ihre momentane Situation, die ihre Zuneigung auf eine Probe stellt. Und dass ihr Leben von der Geheimgesellschaft kontrolliert wird, macht ihnen schwer zu schaffen. Da bilden die Aufenthalte in der Traumwelt nur einen unzureichenden Ausgleich. George ist vom Bett aufgestanden, findet Georgina auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzend. Er setzt sich neben sie, sieht, dass Tränen ihre Wangen herabfließen, flüstert „gib nicht auf. Denke daran, was Du zu mir gesagt hast: es wird alles wieder in Ordnung kommen…“ Da lehnt sich Georgina gegen die Schulter vom Rabenvater, und er legt tröstend seinen Arm um sie.
Der Transit hält auf einem der Parkplätze, der Hippie und Sonja, das Glatzengirl steigen aus. Der Hippie öffnet die Seitentür, und Elwood kommt, freudig mit dem Schwanz wedelnd, herausgesprungen. Musik schallt ihnen entgegen, als sie sich der Rasenfläche nähern. Jemand hat einen batteriebetriebenen Ghettoblaster mitgebracht, in dem eine Cassette einliegt. Gerade ist Musik von sonic youth zu hören. „Hey, Leute! Wie schaut`s?“ Morgen-ist-eh-alles-zu-spät und Schieß-mich-heute-tot winken kurz ihre Hände, konzentrieren sich weiter auf ihr Backgammonspiel. Der Hippie wirft dem Hund einen Ball zum spielen zu, lässt sich auf dem Rasen nieder, wendet sich dem Tapemixer zu. „Ahoi, Birdy. Wie es aussieht, hat noch keiner Bier mitgebracht.“ Birdy entschuldigt sich, sagt, dass er mit dem Cassettengerät genug zu schleppen hatte. „Dann hol ich gleich noch welches.“ Morgen-ist-eh hat die Partie gewonnen, fragt Sonja, wie es Alex geht. „Ich soll euch von ihm grüßen.“ „Hey, Marc, hier ist Geld für Bier“, ruft Schieß-mich dem Hippie hinterher, doch dieser winkt ab. „Ich geb einen aus. Elwood, Du bleibst hier…“ Der Hund leistet Folge, hat er doch in Morgen-ist-eh einen Spielkameraden gefunden. Aus den Lautsprechern des Ghettoblasters tönt nun Hardcoretechno, und Sonja fragt Birdy, wer das ist, bekommt als Antwort „Hetzjagd auf Nazis von Atari Teenage Riot.“ „Cooler Mix. Wann hast Du den gemacht?“ „Gestern abend.“ „Hast auch was von Guns`n Roses dabei?“ wird von Schieß-mich-heute-tot gefragt, was Birdy verneinen muss. „Aber beim nächsten Mix bring ich die garantiert mit rein.“ Es beginnt, dunkel zu werden. Der Hippie ist mit einer Palette Dosenbier zurückgekommen, Schieß-mich kommt auf die Idee, ein Lagerfeuer zu machen und sammelt dafür Zweige und Äste zusammen, entzündet sie unter Zuhilfenahme eines Zellstofftaschentuchs und durch pusten. Elwood liegt bei Marc, der, wie die anderen auch, Gedanken schweifen lassend in die Flammen starrt. ‚Are you satisfied?‘ fragen Jesus Jones, da werden sie umstellt von helmtragenden Polizisten, aufgefordert, die Musik abzustellen und das Feuer zu löschen. Birdy drückt sofort die Stopptaste, Schieß-mich-heute-tot erhebt sich und beginnt, beschwichtigend gestikulierend auf die Uniformierten einzureden, bekommt als Antwort einen Schlagstock zu spüren. Elwood hat angefangen, seine Zähne zu fletschen und warnend zu bellen. „Nimm Deinen Köter an die Leine!“ Der Hippie versucht, den Hund zu beruhigen, doch dieser gebärdet sich weiterhin wie toll. Da zieht einer der Beamten seine Dienstwaffe und schießt auf den Hund, der jaulend niederfällt und auf der Seite liegenbleibt. „Elwood, nein!“ Marc beugt sich zu dem Tier nieder, sieht eine blutende Wunde an dessen linker Schulter. „Du verdammter Scheißbulle!“ Der hält seine Waffe immer noch in den Händen, zielt jetzt auf den Hippie. „Macht endlich das verdammte Feuer aus!“ brüllt ein anderer Polizist. „Solln wir`s etwa auspissen, oder was?“ schreit das Glatzengirl zurück, was einen weiteren Beamten zu der Bemerkung „das würde ich gerne sehen“ verleitet. „Nehmt doch das Bier dafür“, kommt als Vorschlag aus den Reihen der Helmträger. Sofort kippen Birdy und Morgen-ist-eh-alles-zu-spät den restlichen Inhalt ihrer Dosen in die Flammen. Marc kümmert sich derweil um den verwundeten Elwood, wendet sich an die Polizisten: „Ich muss den Hund zu einem Tierarzt bringen!“ „Hier verlässt niemand den Ort, bevor nicht die Personalien aufgenommen wurden.“ „Ich heiße Schieß-mich-heute-tot.“ „Und mein Name ist Morgen-ist-eh-alles-zu-spät“, beeilen sich die beiden um Namensnennung, um dieses unangenehme Procedere zu beschleunigen. Birdy und Sonja folgen ihnen, und als letzter gibt der Hippie seinen Namen preis, gleichzeitig fragend, ob er nun endlich seinen Hund zum Auto bringen kann. „Dann will ich Ihre Fahrzeugpapiere sehen“, fällt dazu einem Beamten ein. „Die liegen im Transit“, knirscht Marc zwischen den Zähnen hervor und bewegt sich, eskortiert von einer Polizistin und einem Polizisten, mit Elwood in den Armen, weg vom Ort des Geschehens. Der Uniformierte, welcher zu Anfang gefordert hat, die Musik auszustellen und das Feuer zu löschen, überlegt, den Ghettoblaster zu beschlagnahmen, entscheidet sich dann, die Cassette als Beweismaterial mitzunehmen. Auf die Frage, ob er sein Mixtape wiederbekommen würde, bekommt Birdy zu hören, dass sich die Staatsanwaltschaft bei ihnen allen melden wird. Sonja will darauf etwas entgegnen, lässt es dann aber bleiben, sieht durch einen Schleier aus Wuttränen die Staatsbüttel abziehen. Schieß-mich-heute-tot betastet die Stelle, wo ihn der Schlagstock getroffen hat, erfühlt dort eine Beule. „Alles in Ordnung?“ wird er von Birdy gefragt, was Schieß-mich freudlos auflachen lässt. „Nein, Birdy, hier ist im Moment absolut nichts in Ordnung“, und der Tapemixer entschuldigt sich für die blöde Frage. „Ich schlage vor, wir brechen hier die Zelte ab und gehen alle noch zu mir, unsere Wunden lecken.“ „Und wenn Marc zurückkommt, wie soll er wissen, wo wir sind?“ fragt Sonja Morgen-ist-eh-alles-zu-spät, worauf dieser spontan keine Antwort geben kann. „Ich kann ja hierbleiben und auf ihn warten“, bietet Birdy an, was jedoch abgelehnt wird. Und so zieht die kleine Gruppe mit dem Ghettoblaster und ihrem restlichen Dosenbier los.
Sie kommen in das Haus ohne zu klingeln, betreten die Wohnung von Hübsch-Dich-zu-sehen ohne vorherige Ankündigung. Es ist ein diesiger Morgen; der stetig niederfallende Nieselregen überzieht alles mit einem Grauen Schlier. Die Bäume, die Dächer der Häuser, die Autos und die Menschen. Und allmählich beginnt der Graue Schlier auch in ihre Köpfe einzuziehen. Die zwei Männer tragen dunkelgraue Trenchcoats und schwarze Hüte, denen der Regen scheinbar nur kurz zugesetzt hat. Sie finden Hübsch-Dich-zu-sehen auf dem ungemachten Bett sitzend. Er hat sich gerade eine Flasche Bier aufgemacht und nimmt einen Schluck daraus. „Aber Herr Kellner! So früh am Morgen! Das muss doch nicht sein“, mahnt ihn Einsatzleiter Zwicker. Sein Begleiter schaut sich derweil um, registriert die Batterie leergetrunkener Bierflaschen sowie den Abwaschberg in der Küche, die herumliegende Wäsche im Schlafzimmer. „Ich habe den Eindruck, Herr Kellner vernachlässigt sich etwas…“ Zwicker nickt betrübt bestätigend, geht auf Hübsch-Dich-zu-sehen zu, der die beiden Eindringlinge aus blutunterlaufenen Augen anstiert, als handele es sich um einen bösen Traum, und nimmt ihm die Flasche aus der Hand. „So können Sie doch unmöglich Ihren Aufgaben nachgehen.“ Der so Angesprochene beginnt zu weinen, schüttelt seinen gesenkten Kopf, und Tränen tropfen auf sein schmutziges T-Shirt. „Na, nun fassen Sie sich mal!“ Zwicker setzt sich neben den vor sich Hinjammernden, berührt seine Schulter, übergibt unterdessen dem anderen Agenten die gerade angetrunkene Bierflasche. „Sie müssen diesem Tagthetruth auf die Spur kommen. Verstehen Sie das?“ „Ja, ja. Ich versuch`s ja!“ „Nein! Es reicht nicht, es zu versuchen! Sie müssen es wollen! Es ist enorm wichtig, dass wir diesen Tagthetruth ausfindig machen und einer Vernehmung unterziehen. Er ist der Einzige, von dem wir vermuten, dass er noch Verbindung zu D.B. hat….“ Zwicker lässt eine Pause, macht den Anschein, als würde er über etwas nachdenken, stellt Rafael auf einmal die Frage „oder wer hat in der Zwischenzeit versucht, mit Diego Balanza Kontakt aufzunehmen?“ „So heißt der Typ?“ „Ja, so heißt der Typ.“ Hübsch-Dich-zu-sehen schüttelt wieder seinen Kopf. „Darüber weiß ich nichts.“ „Vielleicht frischt das Dein Gedächtnis auf“, zischt der vor ihm stehende Agent, schüttet den Inhalt der Bierflasche über den Kopf des Wimmernden aus. „Wir kommen wieder. Und sollten Sie bis dahin keine Resultate oder Antworten vorweisen können…“ Durch den Schlier aus Bier erkennt Hübsch-Dich-zu-sehen ein aufgeklapptes Messer, das dicht vor sein Gesicht gehalten wird. „…Werden wir eine andere Sprache sprechen.“ Es regnet immer noch, als der Mann die beiden Agenten in ihr Auto steigen und losfahren sieht. Er starrt aus dem Fenster, sieht, wie der Graue Schlier immer näher kommt, und da fasst er einen für sein Dasein wichtigen Entschluss…
Georgina Ponee hat mit Cassius den Rand von dem Wald erreicht, zögert kurz, aber nicht, weil sie sich nicht sicher ist, dort hineinzureiten, sondern weil sie das Pferd entscheiden lassen will, wohin es geht. Doch auch Cassius wartet ab, will von der Reiterin eine Anweisung haben. So gibt Georgina ihm einen kurzen Druck mit den Schenkeln, woraufhin der Hengst in Schritttempo einen Weg einschlägt, der in den Wald hineinführt. Georgina zieht tief die Luft ein, nimmt all die dortigen Gerüche wahr: die Blätter und Nadeln der Bäume, ihr Holz, Pilze. Am Weg entlang befindet sich ein träg dahinfließender grüner Bach, der zu einem Sumpfgebiet führt. Umgestürzte Bäume ragen aus grauem, schlickigem Wasser, algen- und moosbewachsen. Es ist kühl da im Wald, Georgina Ponee trägt nur ein kurzärmeliges Hemd. Unvermittelt bleibt Cassius stehen. „Na, mein Großer, was geht vor?“ Die Frau lässt ihren Blick schweifen, sieht zu ihrer Linken eine Holzhütte stehen. „Ach, Du warst hier schon mal, was?“ Cassius schnaubt, als will er damit die Worte bestätigen. Als Georgina sieht, dass der Waldboden bis zur Hütte übersät ist von Ästen und Unebenheiten, entscheidet sie, sich ohne den Hengst dort hinzubegeben. „Und Du wartest hier auf mich.“ Pirschend legt sie die rund fünfzehn Meter bis zu der Hütte zurück, geht um sie herum, findet eine Tür, öffnet sie. „Aha, da ist er ja!“ In dem von grün gefilterten Tageslicht erkennt das Ponee den Floatingtank, davor ein dreibeiniges Tischchen mit der Sanduhr darauf. Georgina atmet tief ein und wieder
aus, drei mal. Sie ist sich unschlüssig, ob sie es wagen soll, in den Tank zu steigen, ohne dass jemand dabei ist, der sie sekundiert, sie durch ein Klopfzeichen zurückholt. Anders als in ihrer Traumwelt bedarf es bei den Tanksessions eines Kontrolleurs, der über die Zeit wacht, damit die Träumenden von dieser Traumebene zurückkehren können. Georgina Ponee entdeckt den Kühlschrank, stellt sich vor, dass sich eine Flasche Weißwein darin befinden könnte, macht ihn auf, und ist enttäuscht darüber, lediglich Bierdosen und -Flaschen dort vorzufinden. Die Frau ist durstig, will sich aber auch etwas Mut für die bevorstehenden Aktion antrinken, Bier jedoch schmeckt ihr nicht. Sie sieht eine weitere Tür, öffnet sie, und hat die Speisekammer vor sich, die tatsächlich auch Weißweinflaschen beinhaltet. Als sie nach einer greift, fällt ihr Blick auf einen Gegenstand, etwas versteckt auf einem der Regale deponiert. Es ist ein kleiner Reisewecker. „Das gibts doch nicht!“ Georgina nimmt ihn an sich, drückt den Korken in die Flasche und gießt das ebenfalls in der Kammer gefundene Glas voll, trinkt daraus. „Also dann: show me to play Pinball…“ In der körperwarmen Flüssigkeit liegend, umgeben von völliger Dunkelheit, nimmt das Ponee die Traumaufzeichnungen Khalils wahr, wie er mit Susha zusammentrifft. Susha hat zu diesem Anlass die Gestalt eines Krafttieres angenommen; sie ist ein Delfin. Bei diesem Treffen will Susha Khalil den Aufenthaltsort D.B`s mitteilen, was diese Aufzeichnung jedoch nicht hergibt. Georgina versucht nun, direkt Signale von Diego aufzuspüren, aber sie wird nicht fündig. So verlässt sie den Tank wieder, ohne dass der Wecker zum Einsatz kommen musste, stellt ihn dorthin zurück, wo sie ihn gefunden hat, kleidet sich an, vergewissert sich am Stand der Sonne, dass ihr Aufenthalt dort nicht länger als erlaubt gedauert hat, und reitet zurück.
Khalil nimmt das letzte Bier aus dem Kühlschrank, wirft einen Blick in das Schlafzimmer, um sich zu vergewissern, dass dort noch der Einkaufswagen mit dem Fernseher steht, und begibt sich in den Kellerraum, setzt sich auf einen der Stühle, beäugt die auf dem gelben Tisch stehenden leergetrunkenen Bierflaschen, rekapituliert die zurückliegenden Ereignisse, nimmt zwischendurch einen Schluck aus der Dose. „Guten Tag. Wir stören doch hoffentlich nicht?“ Ein Mann und eine Frau stehen im Türrahmen, strahlen Khalil an, und warten ab, was er zu ihnen sagen wird. Khalil ist perplex über diesen Besuch, überlegt, ob er die zwei kennt, schon einmal gesehen hat, ihnen vielleicht woanders begegnet ist, aber: nein. Sie wären ihm in Erinnerung geblieben, mit ihren silber- und goldfarbenen Stoffen, in die sie gekleidet sind, dem auffälligen Schmuck aus Muscheln, und dazu diese Cowboystiefel… „Nein. Kommen Sie doch bitte herein. Ich…“ „Wir sind uns noch nicht begegnet“, spricht die Frau, und beide treten an ihn heran. „Ich heiße Neila. Und der Mann neben mir ist Lyndon.“ „Ich bin Khalil.“ Die Frau nickt, als handele es sich lediglich um eine Bestätigung ihrer Vermutung. Der Mann richtet sich gestikulierend an seine Begleiterin, diese antwortet ihm, ebenfalls mit Gesten. ‚Solresol‘, schießt es da Khalil durch den Kopf, ‚sie unterhalten sich in Solresol‘, was ihn wundert, da es sich um eine fast vergessene und kaum noch angewendete Form der Kommunikation handelt. „Wollen Sie sich setzen?“ Neila und Lyndon nehmen das Angebot dankend an, nehmen auf den Holzkisten platz. „Leider kann ich Ihnen nichts anbieten, der Kühlschrank…“ „Danke, aber wir haben bereits etwas zu uns genommen.“ Wieder ein kurzes Gestikulieren, dann spricht der Mann: „Wir kommen aus einer anderen Traumwelt und haben den Entschluss gefasst, uns mit Ihnen in Verbindung zu setzen.“ Auf Khalils Frage, wo sich ihre Traumwelt denn befände, antwortet die Frau etwas rätselhaft, dass sie zu diesem Sternensystem gehören würde. Und dann eröffnet Lyndon Khalil den Grund ihres Hierseins. „Wir würden gerne mit D.B. Kontakt aufnehmen. Sie wissen, wo er sich aufhält?“ Khalil hat einen trockenen Mund bekommen, leert die Flasche, antwortet „nein, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“ „Schade“, ergreift nun Neila wieder das Wort, „wir hatten eine Information darüber bekommen, dass er sich hier aufhalten soll.“ „Hier? Im Keller?“ Nicken. Und auf einmal bricht Khalil der Schweiß aus, als ihm bewusst wird, um was es sich bei den Beiden handelt. Ihm sitzen die Traumkörper von zwei Nigromanten gegenüber! „Glauben Sie mir! Wir wissen nicht einmal, wie er aussieht!“ „Aber Sie haben vorgehabt, ihn zu besuchen.“ Keine Frage, sondern eine Feststellung. „Ihn zu besuchen?“ Khalil will Zeit schinden, um seine Gedanken zu sperren, doch dies nützt nun auch nichts mehr. „Die Adresse von Diego haben Sie von Susha von den Drei Ebenen erhalten. Leider haben wir ihn dort nicht antreffen können…“ Khalil starrt die beiden dort sitzenden Gestalten an, seine Hand krampft sich um die leergetrunkene Bierflasche. „Und nun, so war uns zugetragen worden, soll er hier Zuflucht gesucht haben.“ Khalil schüttelt den Kopf, leistet sich dabei sogar ein Grinsen. „Nein, selbstverständlich nicht! Wir befinden uns hier auf einer anderen Traumebene.“ „Oh, richtig, Herr Samiri… oder darf ich Sie Daniel Mauro nennen?“ Der soeben Entlarvte ist kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, aufzustehen, wegzugehen, sich in die Realwelt zurückzubegeben, aber dies käme einer Kapitulation gleich. „Dann wissen Sie also alles über mich?“ Wieder ein stummes Nicken. „Eine Frage ist allerdings noch offen: hat er vor, zurückzukehren?“ „Wer?“ „Ihr Doppelgänger.“ Khalil sieht keinen Sinn mehr darin, zu leugnen. „Ja, es ist angedacht. Aber noch nicht jetzt.“ „Wann?“ „Zu dem Zeitpunkt wir das Siegel des Salomon bilden werden.“ Bedauerndes Kopfschütteln von Lyndon. „Das könnt ihr euch abschminken.“ „Bitte?“ „Mister Kellner has left the Building.“ „Was?“ „Kurz nachdem er Besuch bekommen hat von…Schleicher?…“ „Zwicker“, berichtigt Lyndon Neila, „…hat Rafael Kellner, in Ihrem Kreis Hübsch-Dich-zu-sehen genannt, sich von dieser Welt verabschiedet.“ „Er ist tot?“ „Zumindest was den Realkörper betrifft, ja.“ Khalil sitzt da, vornübergebeugt, den Blick auf den Betonfußboden geheftet. Das war jetzt einfach zu viel. Wie durch eine Membran hört er die Worte der sich entfernenden Frau: „Besorgen Sie uns D.B., bitte! Bevor er alle Macht an sich reißen kann, und die Herrschaft über die Welt antritt.“ Khalil bleibt zurück, allein. Und dann, voll der Verzweiflung und Hilflosigkeit, beginnt er zu weinen.

Die Nacht ist so dunkel, dass die Gebäude der ehemaligen Kaserne, die zu einem Einkaufszentrum mit Büroräumen umgestaltet werden soll, kaum zu erkennen sind. Auch der dort abgestellte Bauwagen, der den Handwerkern als Pausenraum dient, wird erst sichtbar, wenn man kurz davor steht. Die fünf weißgekleideten Gestalten haben diesen Ort als Treffpunkt gewählt, da sie sicher sein können, dass dort keine Kameraüberwachung stattfindet. „Also, was willst Du?“ „Ich brauche eure Hilfe.“ „Worum geht’s?“ „Diejenigen, die das Gleichgewicht wieder herstellen sollen, sind in Gefangenschaft geraten.“ „Was erzählst Du da?“ „Ich spreche von Susha, George dem Rabenvater, Georgina Taubenfuß…“ „Das ist doch bloß ne Geschichte, Mann!“ „Ich bin ihnen selbst begegnet.“ „Und wer bist Du, Mann?“ „Mein Name ist Alexander Tagthetruth.“ Die Fünf brechen in Gelächter aus. „Ey, biste auf Pille, oder was?“ Da holt Alexander etwas aus seiner Tasche. „Was haste da mitgebracht – ne Playstation?“ „Es ist der Traumaufzeichnungsapparat.“ Wieder Gelächter. Allmählich wird es dem Wortführer zu bunt. „Dann beweise es!“ Tagthetruth hält ihm die zwei Anschlußdrähte hin. „Hier, nimm.“ „Was soll das?“ „Du musst sie an Deinen Schläfen befestigten. Warte, ich zeigs Dir…“ Sein Gegenüber zuckt zurück. „Halt still, sonst geht es nicht.“ Vorsichtig drückt er die kleinen Metallkrallen an den seit Jahrhunderten bekannten Stellen fest, legt seine rechte Hand an den Schalter des Apparates. „Bist Du bereit?“ Nicken. „Dann los!“ Der Weißgekleidete beginnt stoßweise zu atmen, sein Oberkörper ruckt vor und zurück, seine Arme vollführen kreisende Bewegungen, wobei ihm die Kopfbedeckung, eine Melone, zu Boden fällt. Die bisher regungslos dastehenden Begleiter machen eine Bewegung nach vorn, wollen eingreifen, ihrem Anführer die Drähte vom Schädel reißen und anschließend den anderen Typen mit ihren Baseballschlägern und Fahrradketten bearbeiten. „Nein, bitte, wartet!“ Die Vier halten sich tatsächlich zurück, und Alexander schaltet das Gerät aus, nimmt dem Fünften der Gruppe die Drähte ab. Der braucht kurz, bis er wieder da ist, dann „Mann, das ist ja irre!“ „Und, glaubst Du mir nun?“ Und während er von seinen Gefolgsleuten bestürmt wird zu sagen, was da eben los gewesen ist, streckt er Alexander die Hand entgegen. „Ich heiße William, aber nenne mich Billy… doesn´t like to live here in this Town…“ „…Cause it`s a Rat Trap“, kann Alex die Lyrics weiterführen, die Hand von Billy ergreifend. Dieser nickt anerkennend, vollendet „and we´ve been caught“, und die Gang summt eine Melodie dazu, dann ist das Ritual beendet. „Also, was können wir tun?“ „D.B. hat mich um Hilfe gebeten. Die Agenten der Geheimorganisation müssen abgelenkt werden, damit das Siegel des Salomon von Georgina und den Anderen gebildet werden kann…“ Alexander lässt eine Pause, in Erwartung, dass von seinen neu gewonnenen Helfern Fragen kommen, doch die kennen ja bereits Teile der Geschichte, und so instruiert er weiter: „Die Aktionen zur Ablenkung müssen gewaltfrei ablaufen, versteht ihr?“, was ein unwillig klingendes Gemurmel und die Frage folgen lässt „auch kein kleines bisschen tollschocken?“ „Nein.“ „Oder Einsatz von Sprengsätzen?“ „Nope.“ Daraufhin führen die Fünf eine kurze Diskussion, nach der Billy sich wieder an Alex wendet. „Also ja. Wir sind dabei.“ Alexander will den Weißgekleideten keine falschen Versprechungen machen, sagt „ich weiß nicht, was geschehen wird. Vielleicht wird es funktionieren, oder wir werden alle verhaftet und landen im Knast.“ „Dann aber bitte im Hochsicherheitstrakt“, fällt Billy dazu ein, was seinen Mitstreitern ein zustimmendes Lachen entlockt. Zum zweiten Mal reichen sich Rattrap und Tagthetruth die Hände. „Wir werden und wiedersehen.“ „So oder so, ganz bestimmt.“
Bei seinem zweiten Besuch kommt Elias nicht in Arbeits-Verkleidung; er hat sich leger in Schale geschmissen, Chinos, dazu ein chices langärmeliges Hemd, und er bringt Gebäck mit zum Tee, statt Blumen. Susha hat sich für ein geblümtes knielanges Sommerkleid entschieden, das den Rücken freilässt, und mit dem sie ihre Brüste betont. Sie lacht, als Elias ihr die Keksepackung entgegenhält, sagt, dass sie vorhin noch einkaufen gewesen ist, und zeigt ihrem Besuch in der Küche eine Packung mit dem gleichen Inhalt. „Verhungern werden wir also nicht…“ Als Getränk schlägt die Frau Masala-Chai vor, was Elias nichts sagt, und Susha lässt ihn an dem Tütchen mit den Zutaten schnuppern. „Mmh, das riecht…sehr anregend“, was Susha leicht erröten lässt. Sie fragt, ob es ihm etwas ausmachen würde, hier in der Küche zu bleiben, weil es im Wohnzimmer lediglich einen niedrigen Tisch und Sitzkissen gäbe, was zwar auch gemütlich ist… „Ich finde es schön hier in der Küche.“ Elias setzt sich auf seinen angestammten Stuhl und beginnt, die Kekse auszupacken, während Susha den Tee zubereitet. Persephone schaut kurz rein, zeigt aber kein weiteres Interesse an dem Besuch, signalisiert stattdessen, dass sie raus möchte. Susha öffnet das Wohnzimmerfenster, und Persephone gelangt über eine Katzenleiter ins Freie. Die Kekse sind auf einen Teller gefüllt, der Chai fertig, und so sitzen die beiden Menschen an dem Küchentisch, trinken und knabbern, wissen für den Moment nichts zu erzählen, oder besser gesagt, sie wissen nicht, wie anzufangen, und dann ist es Elias, dem der eigentliche Grund für seinen Besuch einfällt. „Wenn Du möchtest, zeige ich Dir jetzt die Fotos.“ Susha möchte, sagt „da bin ich aber gespannt“, und der ihr gegenübersitzende junge Mann holt aus einem Rucksack einen Din-A-5-Briefumschlag, entnimmt ihm eine Packen 10×15-Papierabzüge, schiebt sie zu der Frau hinüber. „Hier, bitte.“ Susha nimmt den Stapel mit geschätzt zwanzig Fotos entgegen, behält ihn in der linken Hand, nimmt das erste Bild, betrachtet es, legt es anschließend auf dem Küchentisch ab. „Was ist das hier?“ fragt sie beim nächsten Bild, hält es Elias entgegen. „Das ist der Traum von einer Oase in Afrika, ich weiß nicht genau, wo. Namibia?“ „Und was sind das für Tiere?“ „Das sind die Gestalten der Krafttiere, die die Träumenden angenommen haben.“ „Ich sehe Schildkröten und… wie heißt das?“ „Echsen. Ja, das sind die Entscheidungen dort gewesen.“ „Wo ist das hier?“ „Oh, das ist in Wyoming, USA. Dort am Fuß dieses Berges versammelt sich regelmäßig eine Gruppe von Träumenden, um sich mit den Ahnen der Ureinwohner zu treffen.“ „Und den Berg gibt es aber wirklich?“ „Ja, er wird als ein Kraftort bezeichnet.“ „Und was für Krafttiere nehmen diese Leute in… Wyoming an?“ „So viel ich weiß, gar keine. Ich habe ein Bild gemalt, wo man sie an einem Lagerfeuer sitzen sieht…“ Susha findet es, fragt „die Männer mit dem Federschmuck, das sind die Ahnen?“ „Ja. Durch sie können die Träumenden mit der Großen Kraft in Kontakt treten.“ „Ich verstehe. Aber weshalb…erreichen Dich diese Träume?“ „Ich weiß es nicht. Irgendwann waren sie einfach da.“ „Ich verstehe.“ Das nächste Bild zeigt eine Insel mit Palmen und Sandstrand, mitten im Meer. „Da würde ich mich langweilen“, kommentiert Susha, und Elias stimmt ihr zu. „Was ich nicht verstehe, ist, warum wir bisher keinen Kontakt zu diesen anderen Träumern gehabt haben“, worauf Elias zu berichten weiß, dass bei manchen der Traumgruppen Verbindungen untereinander bestehen. „Aber vielleicht hat ja Diego Kontakt zu ihnen“, überlegt die Frau, „und hat es uns bisher nur nicht gesagt.“ „Ja, der Herr hat schon seine Eigenarten“, fällt Elias dazu ein, und Susha macht sich keine Gedanken darüber, wie er darauf kommt, da bereits ein weiteres Bild ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat. Wortlos hält sie es ihm entgegen. „Das ist der Jupiter mit einem seiner Monde…“ Susha ist schwer beeindruckt, will wissen, ob denn von ihrer Traumwelt auch ein Bild dabei sei. „Da ist eine Holzhütte im Wald. Die müsste von euch sein.“ Susha findet die Fotografie, sagt, dass sie selber noch nicht dort gewesen sei. Elias nimmt sich noch einen Keks, trinkt den Becher leer. „Möchten Sie… möchtest Du noch von dem Tee?“ Elias lehnt dankend ab, und als Susha ihm die Fotografien zurückgeben will, sagt er, dass sie als Geschenk gedacht seien. „Welches der Bilder hat Dir denn am besten gefallen?“ „Das mit der Hütte im Wald.“ Wieder sitzen die Beiden schweigend beieinander, und dann sagt Susha „wenn Du möchtest, kannst Du gerne wiederkommen. Vielleicht abends. Dann koche ich für uns.“ Davon ist der junge Mann sehr angetan, fragt „wann?“, und die Frau schlägt vor „vielleicht am Samstag? Um acht… nein, lieber schon um sieben.“ Elias verabschiedet sich formvollendet mit einer angedeuteten Verbeugung; Susha bleibt auf dem Küchenstuhl sitzen, lauscht in sich hinein, und fühlt, dass sie verliebt ist, zum ersten Mal in ihrem Leben. Leise bewegt sie ihren Kopf hin und her, kann es nicht fassen, was ihr da widerfährt. Was wohl Diego davon halten würde, denkt sich Susha, und stellt fest, dass sie ihn gar nicht vermisst.
„Wo bist Du denn gewesen? Ich habe Dich überall gesucht!“ „Das glaube ich nicht, dass Du mich überall gesucht hast“, entgegnet ihm Georgina, „sonst hättest Du mich ja gefunden.“ George glotzt die Frau an, die er so bisher noch nicht erlebt hat. „Aber wo bist Du denn gewesen?“ wiederholt er seine Frage. „Ich wollte einfach mal für mich alleine sein. Kannst Du dir das vorstellen? Und wenn es Dich interessieren sollte: ich war ausreiten.“ „Ausreiten?“ „Ja, Herrgott!“ Georgina Darling stampft in die Küche, kommt mit einem geöffneten Bier zurück. „Aber beim Schrebergarten warst Du nicht.“ „Nein. Da wäre ich ja auch nicht alleine gewesen.“ Die Frau pflanzt sich in einen der Sessel, nimmt einen gehörigen Schluck aus der Pulle. „Ich war bei der Waldhütte…“ „Bei der Waldhütte?“ „Ja, bei der Waldhütte. Und ich werde Dir auch verraten, was ich dort wollte: ich habe vorgehabt, mit Diego Balanza in Kontakt zu treten…“ George kann es nicht fassen, was er da eben zu hören bekommen hat. „Aber das ist uns doch verboten!“ „Da scheiß ich aber drauf.“ „Georgina!“ „Es hat ja auch nicht funktioniert“, gibt die Frau gleich darauf zu. Aber jetzt bohrt George weiter. „Du kannst doch nicht ohne Begleitung in den Tank!“ „Aber sicher! Ihr habt euch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie Khalil das angestellt hat…“ „Ja, stimmt, der war ja auch…“ „Mit einem Reisewecker. Einem stinknormalen Reisewecker. Genial, nicht?“ Jetzt funkt George zurück, sagt, dass sie sich zu Anfang darauf geeinigt haben, keine Uhren mit in die Traumwelt zu bringen. „Ja. Das war, bevor irgendwelche finsteren Gesellen angefangen haben, uns auf den Füßen herumzutreten. Andere Zeiten, andere Sitten…“ George sagt nun eine Weile nichts, fragt dann nach, ob er sie richtig verstanden hat, dass es ihr nicht gelungen ist, eine Verbindung mit D.B. herzustellen. „Nein, ist es nicht.“ Fast kommt es Georgina vor, als wäre George erleichtert darüber, blafft deswegen los: „Was sollen wir denn Deiner Ansicht nach tun? Hier rumsitzen und abwarten, bis sich alles zum Guten wendet?“ George sagt, dass sie doch ihre Traumwelt haben mit den Gärten, doch Georgina winkt ab. „Mich beschleicht allmählich das Gefühl, dass wir da zu große Hoffnungen hineingesetzt haben.“ „Wie meinst Du das?“ „Es wurde alles so angelegt mit dem Glauben, dass über kurz oder lang noch weitere Träumende hinzukommen würden…“ Georgina vollführt eine Handbewegung, mit der sie signalisieren will, dass dies letztlich eine Illusion gewesen sei. „Nein, Georgina! Es wird alles gut werden, wenn erst…wenn wir erst…“ „…Das Gleichgewicht der Kräfte wieder hergestellt haben?“ Georgina Darling lässt der Frage ein verächtliches Schnauben folgen, und dann „ich denke, Khalil hat recht mit dem, was er sagte.“ Verzweifelt fleht George die Frau nun an, nicht ihren Glauben zu verlieren, doch diese bewegt leise ihren Kopf hin und her, schaut dem dort vor ihr sitzenden Mann direkt in die Augen. „Nein, George! Es wird allmählich Zeit, dass wir beginnen, die Wirklichkeit zu sehen…“
Der Büroraum liegt im ersten Stock des Instituts; durch eine die gesamte Frontseite einnehmende Scheibe kann auf den Forschungsbereich geschaut werden, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinter Schreibtischen sitzen und Ergebnisse von Computersimulationen ausarbeiten, die von anderen Angestellten des Instituts erstellt worden sind. ‚Ordem e Progresso‘ ist auf einem Banner zu lesen, ein Motto, das auf den französischen Mathematiker und Philosophen Auguste Comte zurückgeht. Ordnung und Fortschritt. Dies beides findet sich in der Einrichtung des Büroraums wieder. Klare Linien bestimmen das Mobiliar: Kunstlederbespannter Stahl bei den Sitzgelegenheiten, der Schreibtisch ist aus Melamin. Im Raum verteilt stehen, nach Vorgaben des feng shui, diverse Pflanzen mit Hydrokultur genährt, vorzugsweise Ketiapalmen. An der Wand links vom Eingang ist ein Wasserspender aufgebaut. An dem Schreibtisch sitzt ein Mann, gekleidet in einen hellgrauen Anzug; sein ebenso graues Haar ist zu einem Igelschnitt frisiert. Die in dunkelgrünen Lackschuhen steckenden Füße hat der Mann auf der Schreibtischplatte abgelegt. Zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand hält er eine noch in Manufaktur hergestellte Il Moro, in der anderen ein schnurloses Festnetztelefon. „Ich denke schon, dass es uns etwas angeht. Schließlich werden dort wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten in Frage gestellt – Nein, viele seiner Aussagen konnten im Laufe der Jahre durch Versuche bestätigt werden – Einstein war Jude. Von daher vermute ich, dass er den Spruch auf das Alte Testament bezogen hat… Roland, um was es mir geht, ist, dass mit dem Aussetzen dieser Regeln Tür und Tor geöffnet wird für irgendwelche Kosmogonischen Mythen. Und dies wäre unserem Bestreben, mittels der Quantenphysik einen Gottesbeweis zu erbringen, nicht sonderlich zuträglich – ach so, sie stehen bereits unter Beobachtung? Ah, gut, sehr gut – Soll das heißen, Du willst Dich auf Dein Altenteil zurückziehen? Und wer käme Deines Erachtens für die Nachfolge in Betracht? – Ich verstehe. Die üblichen familiären Zwistigkeiten…“ Der Mann nimmt die Füße vom Tisch. „Ich sehe gerade, da ist noch jemand anderes in der Leitung. Wir sehen uns auf dem Golfplatz? Gut, gut. Ade, mein Bester, ade…“
Alexander sitzt bei Barfly, der gerade dabei gewesen ist, sich einen Joint zu drehen. Die Luft in dem Zimmer ist abgestanden, das Fenster ist mit schwarzen Tüchern verhängt. In einer Zimmerecke steht eine verwelkte Pflanze. Der Bildschirm des Fernsehers zeigt das Standbild eines Untoten, der einer Frau in den Arm beißt. Tagthetruth erklärt den Grund seines Besuchs, was Barfly aggressiv-abweisend reagieren lässt. „Hast noch nichts davon gehört, was gestern im Park losgewesen ist, was?“ Alex verneint. „Na, dann werd ich es Dir sagen. Eine Einheit Cops hat Morgen-ist-eh-alles-zu-spät und Schieß-mich-heute-tot drangsaliert. Sonja, Birdy und der Hippie waren auch dabei. Den Hund von Marc haben sie angeschossen…“ „Was?“ „Ja, was. Und das alles, weil Du meinst, hier den Weltretter spielen zu müssen!“ „Matthias, ich…“ „Nenn mich nicht Matthias! Und ich meine es, wie ich es sage. Das sind Kräfte, mit denen Du dich besser nicht einlassen solltest.“ „Ich habe keine andere Wahl. Sie sind es gewesen, die den Kontakt zu mir aufgenommen haben, und bitte, glaube mir, Barfly, durch sie kann das Gleichgewicht der Kräfte wieder hergestellt werden.“ Die Reaktion von Barfly ist ein kurzes, humorloses Lachen, dann: „es ist sinnlos, den Anker auszuwerfen, wenn das Schiff untergeht.“ „Nein, nein, nein, Barfly! Bitte höre mir zu: Diese Kräfte, von denen wir sprechen, wirken nicht ausschließlich außerhalb von uns. Sie sind ein Teil von uns. Und wir sind ein Teil von ihnen. Und wir haben die Möglichkeit. Sie zu beeinflussen…“ Alexander überlegt, stellt richtig: „Wir können Denen behilflich sein, die es können.“ „Und wie?“ „Wie ich es zu Anfang sagte. Indem wir die Kontrollorgane ablenken. Bitte lass Dir dazu was einfallen, Barfly, o.k.?“ „Ich werds mir überlegen.“ Barfly entzündet den Joint, nimmt einen Zug, hält ihn Alexander entgegen. Dieser lehnt ab, steht auf, verabschiedet sich. Barfly drückt die Playtaste des Videorekorders, und bevor Alex das Zimmer verlässt, sieht er, wie dem Zombie, der der Frau ein Stück Fleisch aus dem Oberarm gebissen hat, in den Kopf geschossen wird. Alexander atmet die klare Nachtluft ein, erblickt den abnehmenden Mond, und Sterne funkeln. Dann tritt er den für ihn schwersten Gang an, nur ein paar Straßen weiter, zu Faktor 4. Es liegt ihm so viel daran, den Mann überzeugen zu können. Es musste eine mythische Seite bei ihm geben; der Mann liest schließlich Science Fiction-Romane! Er klopft an die Tür, wartet das „herein“ ab, betritt das Zimmer. Es folgt eine freundliche Begrüßung, und dann entschuldigt sich Faktor 4, gibt zu, an dem Abend zu dogmatisch reagiert zu haben. „Das ist unhöflich von mir gewesen.“ Die Entschuldigung lässt Alexander Mut fassen, und bei einer Kanne grünem Tee erklärt er Faktor 4 die Lage, und was der Plan ist. Dieser wiegt seinen Kopf hin und her. „Wie bereits gesagt, bin ich ein Mann der Wissenschaft und Forschung, sehe also die aus ihr hervorgegangenen Gesetzmäßigkeiten durchaus als non plus ultra zum Erkennen der uns umgebenden Welt an…“ Diese Aussage des Chemikers lässt Alexanders eben noch gewachsene Hoffnung augenblicklich wieder zusammenfallen. „…Auf der anderen Seite bin ich ein Anhänger von Platons Höhlengleichnis“, was Alexander nun nichts sagt, und auf seine Nachfrage hin bekommt er zu hören: „Verkürzt und vereinfacht gesprochen beinhaltet dieses Gleichnis Folgendes: Eine Gruppe von Menschen verbringt ihr ganzes Leben in einer Höhle, gefesselt und ihren Blick nur auf die Wand vor ihnen richten könnend. Die Wand wird von einem weit oberhalb der Höhle hinter ihnen befindlichem Feuer beleuchtet, durch das Schatten von Objekten und anderen Lebewesen an der Wand zu sehen sind. Das, was die Gefangenen dort sehen, versuchen sie zu deuten, und erkennen diese Deutungen als die Wirklichkeit an.“ „Ich verstehe nicht ganz, was…“ „Nun, mitunter kommen mir Wissenschaftler vor wie die Gefangenen in dieser Höhle. In dem Gleichnis wird einer der Gefangenen losgebunden und zu dem Feuer geführt, wo er sehen kann, was dort geschieht. Laut Platon gibt es zwei Möglichkeiten, wie dieser Mann reagiert: Die eine ist, dass er durch die neuen Eindrücke verwirrt und überfordert ist, wieder in die Höhle zurückkehrt, und an den alten Deutungen festhält. Die zweite Möglichkeit ist, dass er mit seinen neu gewonnenen Erkenntnissen zu den anderen Gefangenen zurückkehrt und ihnen davon berichtet. Was könnte die Reaktion darauf von den in der Höhle zurückgebliebenen sein?“ „Entweder sie glauben ihm und wollen auch aus ihrer Lage befreit werden, oder… sie lassen sich nicht von ihrem alten Glauben abbringen, und erklären ihn für verrückt.“ „Richtig! Und in einem ähnlichen Dilemma befinde ich mich gerade.“ Wieder kann Alex dem Mann nicht folgen, und so erklärt Faktor 4, dass nach seinem Besuch an jenem Abend die Zweifel, welche schon länger sich still und leise bei ihm eingenistet hatten, nun auf einmal begonnen haben, einen großen Raum einzunehmen. „Das war nicht meine Absicht“, gibt Tagthetruth sogleich bekannt, was den Chemiker eine beschwichtigende Handbewegung vollführen lässt. „Kennst Du das Märchen von ‚des Kaisers neue Kleider‘?“ „Ja, das kenne ich.“ „Ich denke, so funktioniert es auch bei der Weitergabe und Konsolidierung von Wissen. Von einer Autorität, sagen wir, von einem Professor, wird eine Behauptung, meist in Form einer Theorie, aufgestellt. Und diese gilt als gültig, solange sie nicht von jemand anderem widerlegt wird. Diese Theorie wird an Universitäten gelehrt, findet Eingang in Schulbücher, und wird gerne auch bestätigt durch Experimente von Forschern, die dadurch die Wahrhaftigkeit dieser Theorie untermauern wollen…“ Faktor 4 grübelt nach, ergänzt „obwohl dies beim Michelson-Morley-Experiment zur Bestätigung des Lichtäthers nun nicht funktioniert hat…“ Alexander wirft ein, dass bei dem erwähnten Märchen nicht eine Autorität, in dem Fall der Kaiser, eine unwahre Behauptung aufgestellt hat, sondern die Schneider, die die Kleider anfertigen. „Das ist richtig. Mir ging es dabei um die Moral: es wagt kaum jemand zu sagen ‚das stimmt nicht‘, wenn von der Mehrheit behauptet wird, dass es sich um die Wahrheit handelt.“ „Hast Du die Schriften von diesem Daniel Mauro gelesen?“ Faktor 4 schüttelt unwirsch den Kopf. „Ich habe davon gehört, bin damals aber schwer damit beschäftigt gewesen, meine Examensarbeit zu schreiben.“ Alexander wartet gespannt auf die Entscheidung des Mannes, ob er sich ihnen anschließen wird, oder ob die Skepsis überwiegt. Er unterlässt es, nachzufragen, Faktor 4 zu einem Entschluss zu drängen. „Gut, also, ja, ich werde die Aktion unterstützen. Aber nicht, weil ich daran glaube! Ich sehe es als die Durchführung eines Experiments an.“ Als Alexander wieder draußen ist und vor dem Grundstück in der Seitenstraße steht, überlegt er, wie er nun zurück zu dem Hof von dem Hippie gelangen kann, was zu Fuß eine beachtliche Strecke bedeutet. Es nähert sich ein Motorrad, wird neben ihm angehalten, und der Lenker klappt das Visier seines Helms hoch, fragt „na, Herr Tagthetruth, wohin kann ich Sie bringen?“
Khalil Samiri alias Daniel Mauro ist einkaufen gewesen. Einen Teil der Getränke hat er in den Kühlschrank gestellt. Nun sitzt er auf der Couch am Wohnzimmertisch. Bevor er aus der Traumwelt zurückgekehrt ist, hat er in der Küche abschließende Notizen hinterlassen, die Diejenigen, die sie entdecken würden, von dem Zusammentreffen mit Neila und Lyndon in Kenntnis setzen sollen. Auf dem Tisch liegen Packungen mit verschiedenen Medikamenten; zum Teil frei käufliche (Schmerztabletten), und auch rezeptpflichtige (Antidepressiva, Beruhigungsmittel), die er sich von dem Anwalt hat besorgen lassen. Für Lieferservice ist der Mann gut zu gebrauchen. In der anderen Dienstleistung, für die er seinen Schein gemacht hat, konnte man ihn getrost in die Tonne treten. Aber darauf kommt es jetzt nicht mehr an. Der Mann hat den Entschluss gefasst, sich wegzumachen. Er hat mit sich selbst durchdiskutiert, wie er dies anzustellen gedachte, und ist ziemlich schnell zu der nun in der Durchführung befindlichen Methode gekommen: Medikamente und Alkohol. Das sollte funktionieren. In das bereitgestellte Glas gießt er zur Hälfte Weißwein, füllt es mit Apfelkorn auf. Auf dem Tisch stehen außerdem noch Southern Comfort, weißer Rum, Wodka, Cuarenta y tres Likör, und warten auf ihren Einsatz. Daniel lässt den Zufall entscheiden, mit welchem Medikament er startet, nimmt dazu einen Abzählreim zur Hilfe – ene mene miste – landet bei den Ibuprofen 400, drückt eine der Tabletten aus dem Blister, nimmt sie in den Mund, und befördert sie mit einem Schluck von dem Wein-Korn-Cocktail die Speiseröhre hinunter. So, was jetzt? Vielleicht eine Diazepam? Wird eingeloggt. Anschließend wartet er ab, ob und wie das bisher eingenommene Wirkung zeigt. Als er merkt, dass er schon etwas lahm ihn den Beinen wird, öffnet Daniel die Flasche Southern Comfort und den weißen Rum, trinkt das Glas leer, füllt halb und halb mit den neuen Getränken auf, probiert. Mmh, lecker!, entscheidet sich als nächstes für eine Tavor, muss bei dem Gedanken lachen, dass er gar nicht die Beipackzettel liest, wegen möglicher Nebenwirkungen… Er schaltet noch den Fernseher an, dann überwältigt ihn Müdigkeit. Daniel fällt in Schlaf, und er träumt, wieder im Keller zu sein. Hassan i Sabah ist dort, schüttelt missbilligend seinen Kopf, sagt „dafür habe ich Dich nicht zurückgeschickt“. George Rabenvater sitzt an dem niedrigen Tisch, der dort rot ist, angeschlossen an den Gedankenaufzeichnungsapparat, motzt „das hat sich in der Wirklichkeit doch alles ganz anders zugetragen“, worauf ihn eine der Georginas belehrt, dass es auf den Standpunkt, also auf die Betrachtungsweise ankäme, was Hübsch-Dich-zu-sehen fragen lässt, ob die Katze denn nun tot sei oder lebendig. „Das musst Du den unendlichen Affen fragen, der an einer Schreibmaschine hockt und den Hamlet schreiben soll.“ „Das ist doch Quatsch“, ruft der Rabenvater, „so etwas gibt es doch gar nicht!“ „Und uns gibt es dann auch nicht“, behauptet daraufhin Hübsch-Dich-zu-sehen, „weil wir sind nur eine Illusion…“ „…Oder eine Simulation“, fügt Georgina hinzu, „wie der Affe an der Schreibmaschine.“ „Ein Computerprogramm?“ „Welches zuerst von einem Programmierer erstellt werden muss, ja.“ „Ist Gott ein Programmierer?“, und Georgina dreht die Frage um: „Ist ein Programmierer Gott?“, was George „Hilfe, ich will hier raus“ brüllen lässt, woraufhin Daniel aufwacht. Ein Speichelfaden rinnt an seinem Kinn hinab. Er sieht zwei sich überlappende Fernsehbilder, die sich nach und nach zu Einem vereinen. Es zeigt das Rathaus der Kleinen Stadt, vor dem mehrere Einsatzwagen der Polizei stehen.
Am Samstag Abend hat Elias um Punkt 19 Uhr die Wohnung von Susha betreten, frisch rasiert und gegelt, mit einem in Packpapier eingeschlagenen Geschenk unter dem Arm. Susha muss nicht lange raten, was es sein könnte, nimmt es und entfernt vorsichtig das Papier, hält das Bild mit ausgestreckten Armen vor sich hin, betrachtet es, ist so überwältigt, dass sie nichts sagt. „Gefällt es Dir nicht? Dann bringe ich Dir ein anderes mit.“ „Oh, Elias!“ Am liebsten würde Susha den Künstler umarmen, in herzen, aber das geht schlecht, mit dem Gemälde in den Händen. „Wo soll ich es denn aufhängen?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht in der Küche?“ „Ach Elias, nein“, wehrt Susha entrüstet ab, als handele es sich bei diesem Vorschlag um ein Sakrileg, geht voran ins Wohnzimmer, gefolgt von Elias, der bemerkt „das riecht aber lecker hier“, worauf die Köchin gar nicht reagiert, so beschäftigt ist sie damit, einen passenden Platz für das Bild zu finden. Schließlich entscheidet sie sich für die Wand gegenüber ihrem Hochbett, hängt dafür den dort befindlichen Druck von Mackes ‚Dame in grüner Jacke‘ ab. „Da kann ich es vom Bett aus betrachten.“ Wieder steht sie da und schaut, Elias schweigend neben ihr, bis Persephone kommt und an seinen Waden entlangschnurrt, er sich niederbeugt und das Tier begrüßt. „Das Essen! Zieh doch Deine Jacke aus. Du kannst sie mir geben. Wir essen hier. Trinkst Du Wein? Ich habe Rotwein eingekauft…“ Kurz darauf lassen sie sich die Fischpfanne schmecken, fijianisch, das Rezept habe sie von Khalil, und trinken dazu den Wein, Cabernet sauvignon, von wegen Whitewine with the Fish… „Du sollst doch nicht betteln!“ Das Katzentier schleicht bei dem Gast herum, darauf spekulierend, dass für sie etwas von dem Fisch abfällt. „Sie hat ihr Futter in der Küche stehen, und das weiß sie auch.“ „Aber eins darf sie doch, oder?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, streckt er Persephone seine linke Hand mit dem Stück gedünsteten Rotbarschfilet entgegen. Der Tiger schnappt sich die Beute, verzehrt sie mit sichtlichem Genuss. „So, das reicht denn aber auch…“ Zum Nachtisch gibt es Schoko-Vanillepudding aus dem Kühlfach vom Supermarkt, und danach noch mehr Wein, der die Schranken öffnet und die Zungen löst zum „Ich-erzähl-Dir-jetzt-von-mir“-Gespräch, in dem Elias erfährt, wie Susha Diego kennengelernt hat, und er sie mit dem Samadhitank vertraut gemacht hat. Auf die Frage von Elias, was dies sei, erklärt sie ihm die Möglichkeiten, und dass dadurch ihre Fähigkeiten freigesetzt worden seien. Nun bekommt Susha zu hören, woher Elias meint, seine Fähigkeit, Träume anderer Menschen zu sehen, erlangt haben könnte. Seine Geschichte beginnt damit, dass er seine Mutter nie kennengelernt hat. Elias wurde als Säugling von einer ausgebildeten Kinderschwester betreut, wuchs heran, bekam seinen Vater oft nur am Wochenende zu Gesicht, da dieser als Arzt in einer Klinik arbeitete und parallel dazu zum Doktor promovierte. Mit vier, fünf Jahren nahm sein Vater ihn zu den Großeltern mit, die in einem schlossähnlichen Anwesen mit einem großen Park lebten. Elias erinnert sich an einen steingefliesten Eingangsbereich, von dem aus man in viele Zimmer mit hohen Decken gelangte. Von der Eingangshalle führte eine Treppe in das obere Stockwerk, wo dunkle, schwere Holztruhen standen, in denen Leinenbettwäsche aufbewahrt wurde. Dort befand sich das Zimmer, in dem er schlief, wenn er bei den Großeltern übernachtete. „Und hast Du Dich gefürchtet, in dem großen Haus?“ „Nein, überhaupt nicht! Großvater und Großmutter waren an diesen Wochenenden immer präsent. Großmutter kochte für alle, und wir aßen in dem großen Speisezimmer, wo auch das Klavier stand, auf dem Grova an manchen Nachmittagen spielte. Manchmal war auch der Bruder von meinem Vater zu Besuch. Einmal bekam ich mit, wie sich die beiden über etwas stritten, bis ihre Mutter den Raum betrat und ihnen sagte, sie sollen damit aufhören…“ Elias nimmt eine Schluck aus dem Weinglas; es macht den Eindruck, als überlege er, wie er fortfahren solle. Susha sagt nichts, wartet ab. „Abends, wenn ich fertig war zur Nacht, kam Groma noch an mein Bett, und las mir Geschichten vor, oder erzählte auch welche…“ „Was waren das für Geschichten?“ „Eine, an die ich mich besonders gern erinnere, ist die, die von unseren Vorfahren handelt. Sie beginnt vor etwa 4000 Jahren in Ägypten, im Gebiet des heutigen Fayyum-Beckens. Dort hatten sich zwischenzeitlich Viehhirten angesiedelt, Nomaden, die von dem damals regierenden Pharao Sesostris dem Dritten sowie seinem Sohn, Amenemhet der Dritte, dazu angeheuert wurden, den Josefskanal anzulegen, um durch den Umbau eines Nil-Seitenarms die kontinuierliche Wasserversorgung des Fayyumbeckens und der dort befindlichen Stadt al Fayyum zu gewährleisten. Diese Nomaden nun beteten den Jupitermond Ganymed an, weil sie daran glaubten, die Nachfahren jenes Stammes zu sein, der einst die Ankunft einer Gruppe von Lebewesen vom Mond Ganymed erlebte. Diese hatten, eingeschlossen in einem Meteorit aus Eis, ihren Heimatmond verlassen, weil die den Mond umgebende Eisschicht aufgrund der sinkenden Temperaturen immer dicker wurde, und dadurch ihr Lebensraum, ein darunter befindlicher salzhaltiger Ozean, nach und nach verschwand, und sich auf eine unbestimmte Reise begeben, die auf dem Planeten Erde endete, in einem See, der, wenn auch nicht salzhaltig, den Kiemenatmern einen Unterschlupf bot, den sie nach und nach als ihr neues Zuhause akzeptierten. Die zu dieser Zeit dort ansässigen und vom Fischfang lebenden Menschen verehrten die Ganymedwesen als Götter, und die durch einen Gendefekt zeugungsunfähig gewordenen Männer erdachten einen Initiationsritus für die geschlechtsreif gewordenen Frauen, die in den See hinabtauchten und sich mit den männlichen Wesen vereinten. Die Frauen gebaren Kinder, die sowohl Kiemen- als auch Luftatmer waren…“ „Und solche Geschichten hat Dir Deine Großmutter erzählt?“ „Ja. Und ich fand sie total spannend, weil es nicht einfach Märchen waren, sondern, wie manche Sagen, vielleicht ein Stück Wahrheit in sich tragen.“ „Aber wie kam nun die Verbindung zu Deiner Großmutter zustande?“ will Susha von Elias wissen. „Durch die über all die Jahrtausende stattfindenden Nomadenbewegungen gelangten sie auch nach Norditalien, in die Lombardei. Und meine Großmutter gehört nun diesem alten Lombardischen Adelsgeschlecht an, welches meint, die Nachfahren jener Viehhirten zu sein, die damals in Ägypten gelebt haben.“ „Du musst jetzt gehen“, ruft Susha auf einmal aus. „Es ist schon zehn, und die Tür wird abgeschlossen!“ Etwas verwirrt leistet Elias Folge, wird von der Frau zur Haustür begleitet, wo sie noch eine Zeitlang verweilen, und Susha wundert sich, dass Hübsch-Dich-zu-sehen nicht auftaucht, „er ist immer sehr gewissenhaft bei der Ausführung dieser Pflicht“, und dann verabschiedet sich Elias mit einem zarten Wangenkuss, fragt, ob er Susha anrufen kann, seufzt bei der Antwort, dass ihnen Telefone nicht gestattet sind, und gibt seinem Ärger darüber Ausdruck, dass es nicht in seiner Macht steht, etwas an den Gegebenheiten zu ändern. Als Elias geht, winkt er noch den beiden in den am Straßenrand geparkten Auto sitzenden Wachtposten zu, die seine Geste mit einem verhaltenen Nicken erwidern, dann ist er auf einmal nicht mehr zu sehen, worüber Susha sich wundert, weil sie ihn in kein Auto oder auf ein Fahrrad hat steigen sehen. So kehrt sie in ihre Wohnung zurück und beginnt, den Tisch abzuräumen.
