Es war einmal ein Mann, der mochte sich nicht viel bewegen.
Und er liebte die Pflanzen. Der Mann hatte eine Freundin. Eine ganz liebe. Und weil sie ihn so liebte, brachte sie ihm bei ihren Besuchen immer neue Pflanzen mit. Auch seine Freunde schenkten ihm welche, und seine Eltern und die Eltern seiner Freundin…
Bald stand die ganze Wohnung voller Pflanzen. Glücklicherweise besaß der Mann genügend Zeit, sich ihrer Pflege zu widmen, denn er war vor nicht allzu langer Zeit arbeitslos geworden.
Neben der Terrasse seiner Wohnung hatte er eine aus Brettern gefertigte Kompostmiete stehen. In dieser wurden sämtliche Küchen- und Gartenabfälle gesammelt.
Gleich hinter dem Kompost standen ein Apfel- und ein Birnbaum; der Garten war eingerahmt von dicht wachsenden Büschen.
Eines Tages, der Mann saß in einem Gartenstuhl auf der Terrasse und lauschte dem Gesang der Vögel, kam seine Freundin zu Besuch. Sie klingelte, und er öffnete ihr.
„Bernd“, sprach sie, während beide über Blumentöpfe steigend und sich an emporwachsendem Blätterwerk vorbeischlängelnd durch das Wohnzimmer zur Terrasse bewegten, „meinst Du nicht, daß Du Deine Zeit besser nutzen könntest, indem Du Dir neue Arbeit suchst?“
„Ach…“. Versonnen streichelte der Angesprochene den hochgewachsenen Königskerzen ihre Köpfe. „…Es ist im Moment ganz gut so. Die Pflanzen beanspruchen viel Zeit…“
„In der Tat“, entgegnete sie etwas schnippisch und blieb bei einer prächtigen Zimmerlinde stehen. „Du kümmerst Dich mehr um Deine Pflanzen als um mich!“
Bernd drehte sich um und schaute seine Anvertraute verwundert an. „Aber Iris, Du hast sie mir doch selbst geschenkt!“
„Du hättest sie ja nicht alle annehmen brauchen…“ Mit diesen Worten wandte sie sich zum Gehen, stieß dabei einen Topf mit Funkien um, und verließ die Wohnung.
Der Alleingelassene starrte auf die umgekippte Pflanze, die Blumenerde auf dem Teppich, und fing an zu weinen. Fast blind vor Tränen stolperte er auf die Terrasse, zog sich dort Schuhe und Strümpfe aus und betrat mit nackten Füßen den Rasen. Angenehm frisch kitzelten die Halme seine Sohlen. Tief atmete Bernd den Geruch des Hibiskus ein, verflogen waren Kummer und Trauer. Er schnüffelte. Ein anderer Geruch lockte ihn; schwer und erdig kam er aus der Ecke mit den Obstbäumen: der Kompost!
Als würde er von ihr hergerufen, ging der Mann auf die Lege zu, nahm eine Hand voll Humus, führte ihn ganz dicht an seine Nase.
Da wußte Bernd, was er zu tun hatte: er krempelte die Hosen hoch und stieg auf den Erdhaufen, versackte in dem Humus bis über die Knöchel und weiter…
Endlich, endlich war er eins mit der Natur!
Eine Woche war vergangen. Iris hatte so gehofft, daß Bernd sich melden würde, sage, daß es ihm leid täte und daß er sich ändere… doch schietendada! Das Telefon blieb stumm. So griff schließlich sie zum Handy und klingelte bei ihrem Freund an. Einmal abends, dann am nächsten Tag nochmal – jedesmal ging die Bandmaschine an. Da Bernd sonst nie so lange aus dem Haus war machte sie sich Sorgen und fuhr zu ihm hin.
Auch auf das Drücken des Klingelknopfes hin geschah nichts. So fasste Iris einen Entschluß, ging um das Haus herum und kämpfte sich durch das dichte Gestrüpp…
„Iris – Iris, wie gut, daß Du da bist!“
Gerade schob sie die Zweige des Ginster beiseite, da hörte sie seine Stimme. Ihr Blick fiel zur Terrassentür, auf den Garten-stuhl… „Hier bin ich, hier…“
Sie kam von rechts, wo die Obstbäume…
Iris konnte zuerst nicht verarbeiten, was ihr angesichtig wurde. Bernd stand dort, in dem Komposthaufen, und lächelte sie an.
Er war eingerahmt von unterschiedlich großen, fleisch-farbenen Blättern, die…
„Es ist alles okay, Schatz“, sprach die Stimme des Mannes, der ihr Freund war.
Langsam ging Iris auf ihn zu, dabei auf die Blätter starrend immer wieder „was machst Du, was machst Du“ murmelnd.
„Als du weggegangen warst, bin ich hier auf den Kompost gestiegen – ich weiß auch nicht, warum. Ich bin den ganzen Tag darin stehen geblieben, und dann passierte etwas mit mir…“
Die Frau stand nun direkt vor dem Sprechenden, ihre Augen nicht von den Blättern lassend. Sie hingen an Stielen, die direkt aus dem Körper ihres Freundes wuchsen. Die Haut war an den Stellen nicht etwa aufgeplatzt, nein, sie hatte sich zu diesen Gebilden verformt. An einigen befanden sich kirschgroße, violettfarbene Knospen.
Iris konnte nicht anders: mit einer Gefühlsmischung aus Abwehr, Neugier und Staunen fasste sie eine der Knospen an, rieb mit dem Daumen daran…
„Hihi nicht, das kitzelt“, hörte sie Bernd sagen, und da wurde ihr schwarz vor Augen.
„Mach sofort, daß Du da raus kommst!“
Auf der Terrasse standen ein Mann und eine Frau, die der auf dem Kompost Lebende als seine Eltern erkannte. Sein Vater hatte einen hochroten Kopf und er zeigte mit dem Finger auf ihn.
„Ich kann nicht“, erwiderte Bernd, „meine Wurzeln sind tief in der Erde – und außerdem…“ er schlug die Augen nieder, „…bin ich hier sehr glücklich!“
„Du Taugenichts!“ brüllte der Vater, „ich werde Dich eigenhändig…“ „Nicht!“ fiel ihm seine Frau in die Arme, „tu ihm nicht weh – siehst Du denn nicht, was mit ihm passiert ist?“
Der zornrot Angelaufene stierte auf die Blätter, die Knospen, und schüttelte ungläubig, widerwillig den Kopf. „Nein“, sprach er schließlich, und dabei presste er mühsam die Worte über seine Lippen, „das da ist nicht mehr mein Sohn…“
Nach diesem Satz drehte der soeben Verwaiste sich ab und stiefelte durchs Haus, dabei Töpfe um- und Pflanzen niedertretend.
Seine Frau, Bernds Mutter, rang verzweifelt die Hände und driftete zwischen den Schicksalen.
„Geh nur“, sprach schließlich Bernd, ihr Sohn, „eile ihm hinterher – und bitte, bevor Du gehst: helfe meinen gefallenen Brüdern und Schwestern, sie wieder aufzurichten…“ Das Gesicht seiner Mutter blickte verständnislos, und so ergänzte er: „die umgestürzten Pflanzen im Wohnzimmer…“ Als sie davoneilte rann eine Träne Bernds Wange hinunter, eine ganz kleine. Und dann war es wieder gut.
Ein paar Tage später begann Bernd zu blühen.
Es war an einem sonnigen Sommermorgen, als die Mehrzahl seiner Knospen aufsprang und sie sich in kräftigem Magenta entfalteten. Seiner wie er fand überflüssigen Kleider hatte er sich entledigt, und so konnte die Pracht ungehindert bestaunt werden.
„Irgendwie…cool.“ Klaus, aus Bernds engerem Freundes-kreis, hatte es sich auf der Gartenliege bequem gemacht und prostete ihm mit einer geöffneten Bierdose zu. „Auch´n Schluck, alter Freund?“ Bernd schüttelte seinen Kopf. Dies und das Sprechen bereiteten ihm immer mehr Mühe. Seine Haut wurde ständig starrer, faseriger…
„Wasser!“ orderte er mit bröckelnder Stimme.
„Was? Achso, ja…“ Klaus erhob sich gemächlich. „Kanne oder Glas?“ fragte er, die Frage mehr als derben Scherz gedacht.
„Beides“, antwortete Bernd. Es hatte länger nicht geregnet.
Der Besucher ließ seinen Blick schweifen, fand schließlich die Gießkanne hinter der Hauswand abgestellt, mit dazugehörigem Wasserhahn. Er ließ sie zur Hälfte volllaufen, um anschließend den Kompost damit zu sprengen.
„Ah, das tut gut“, hörte er Bernd sagen, die Kanne war leer, Klaus stellte sie neben dem Begossenen ab und schaute auf die Uhr.
„Oh, schon verdammt spät“, murmelte er und wandte sich hastig zum gehen, „bis die Tage, Alter!“
Am darauffolgenden Tag war in Bernds Garten die Hölle los:
Irgendwelche Leute kamen auf einmal durchs Gebüsch gebrochen, bewaffnet mit Kameras, Diktiergeräten, und schließlich stand dort ein komplettes Fernsehteam auf der Terrasse; es hatte sich mit all den Lampen und Kabeln durchs Wohnzimmer gekämpft – sämtliche Pflanzen dabei umreissend. Ein Reporter des Tagblattes hatte ihnen aufgemacht.
Selbstverständlich war Klaus nach seinem eiligen Aufbruch nichts wichtigeres in den Sinn gekommen, als mit seiner Entdeckung sämtliche Presse zu mobilisieren. „Ja, überzeugen sie sich selbst – dem Mann wachsen tatsächlich Pflanzenteile aus dem Körper… wo er zu finden ist? Nun, was wäre ihnen diese kleine Information denn wert?“ Man wurde sich schnell über den Preis einig, Klaus rückte die Adresse raus, und dann ging der Rummel los.
Am Anfang genoss Bernd die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, dann wurde es ihm langweilig, und schließlich nervten ihn die vielen Reporter, Schaulustigen, das fotografiert werden… Der Herbst kam, das Interesse an ihm ließ nach, verebbte dann ganz. Und mit dem kühlen Herbstwind spürte er eine Schwere in den Armen, seine Blätter begannen zu welken. Da wusste Bernd, dass es Zeit war zu sterben.
Iris, seine Freundin war es, die ihn in diesem Zustand auffand. Immer wieder „mein Liebster, mein Liebster“ flüsternd umarmte sie ihn, streichelte seine Blätter. Ihre Blicke trafen sich, und da es Bernd zu sprechen nicht mehr möglich war, musste er ihr mit den Augen seinen Wunsch übermitteln, seinen letzten Wunsch…
Und sie verstand, eilte in die Küche, kehrte von dort mit einem großzackigen Brotmesser zurück. Noch zögerte Iris, und als der Sterbende mit letzter Kraftanstrengung jene Öffnung aufriss, die einmal sein Mund war und das Wort „Bitte“ murmelte, da schritt sie zur Tat. Mit erst zögerlichen, dann immer entschlossener ausgeführten Hieben durchschnitt sie das faserige Fleisch, trennte den Stamm kurz überhalb des Bodens ab. Und dann fiel Bernd, die Pflanze, fiel auf den weichen Humusboden. Es war Iris, als höre sie ein erleichtertes Seufzen. Mit tränenverschleiertem Blick schaute
sie in Bernds dankerfüllte Augen, die sich langsam schlossen. Dann eilte sie davon…
Im darauffolgenden Frühjahr glaubte die junge Frau sich stark genug, das Erlebte verarbeitet, um noch einmal zu dem Ort des Geschehens zurückzukehren. Die Wohnung stand mittlerweile leer, wartete auf neue Besitzer. Iris wählte den Weg durch den Garten, zwischen den Büschen hindurch, wie einst, als sie ihrem Freund das erste Mal angesichtig wurde, dort auf dem Kompost.
Auf diesen fiel auch als erstes ihr Blick, sie trat näher heran, hielt das, was sie sah, zuerst für eine Sinnestäuschung. Sie rieb sich die Augen, zwinkerte, doch sie waren immer noch da. Und da ließ Iris sich auf ihre Kniee sinken, so dass sie sich etwa in Augenhöhe mit den kleinen Pflanzen befand, die dort aus dem Kompost wuchsen. Es waren kleine Bernds, Mensch-Pflanzen mit kleinen Köpfen und Armen, die dort miteinander schnatterten, kicherten, und sie neugierig beäugten. Vorsichtig streckte sie ihre rechte Hand nach ihnen aus, berührte eine ganz vorsichtig an den kleinen Blättchen. Diese zuckte ein wenig zurück und gab ein wie schüchtern quietschendes Geräusch von sich.
Da begann Iris zu weinen, aber diesmal aus Freude, und sie sagte „ich bin`s, Eure Mama“, immer wieder, um sich dieser Tatsache selber bewusst zu werden, und dann begab sie sich zum Wasserhahn, füllte die Kanne, um die Kleinen zu begießen…
Christian C. Kruse