„Jesus Christus wurde gekreuzigt, ist am dritten Tage auferstanden und gen Himmel gefahren – um was handelt es sich hierbei ihrer Ansicht nach?“
Es braucht eine Weile, bis es zu Reaktionen kommt. „Das ist Aberglaube.“ „Es ist ein Mythos, eine Legende.“ Die Tür des Hörsaals wird geöffnet und Julia kommt herein. „Entschuldigung, ich bin etwas spät dran…“ „Suchen Sie sich einen Platz. Sie haben noch nichts verpasst.“ Nachdem Julia an einem der Tische platz genommen hat, wiederholt Professor Vogelsang für die Hinzugekommene seine Frage. „Das ist einer der Glaubenssätze, auf dem die christliche Religion aufgebaut ist“, fällt Julia dazu ein. „Was ich von ihnen wissen möchte: ist diese Aussage eine Information, eine These, oder ein Fakt?“ „Wie schon gesagt: Aberglaube. Menschen können nicht von den Toten auferstehen.“ „Es sei denn, es handelt sich um Zombies“, meldet sich ein weiterer Student zu Wort und sorgt damit für ein paar Lacher.
„Zumindest stimmt es, dass Jesus gelebt hat und am Kreuz gestorben ist“, äußert Julia sich. „Darüber gibt es keine historischen Belege! Einzig in der Bibel tauchen über ihn Berichte auf…“ „Für Jesus gibts es keine Beweise. Ebenso wenig, wie es für die Existenz Gottes welche gibt“, kommt von dem Jungen, der den Spruch mit den Zombies gebracht hat.
„Okay, ehe wir in eine theologische Diskussion geraten, wiederhole ich meine Frage: handelt es sich hierbei um eine Information, eine These oder einen Fakt?“ „Also, um einen Fakt handelt es sich auf jeden Fall nicht, auch wenn eben gesagt wurde, dass die Geschichte mit Jesus stimmt…“
„Vielleicht muss man das getrennt betrachten. Zum einen das Leben von Jesus aus Nazareth bis zu seiner Kreuzigung, und die angebliche Auferstehung“, schlägt eine Studentin vor. „Ich glaube auch nicht an Jesus als Sohn Gottes, sondern dass er als Mensch existiert hat“, ergänzt Julia, und Alexander hakt nach „sie glauben daran, wie zwei Milliarden andere Menschen auch, ohne dass es irgend jemand bestätigen kann…“ „Stand nichts in der Zeitung drin“, wird erneut ein Witz versucht, auf den Alexander mit der Frage eingeht, wer von den Anwesenden regelmäßig Zeitung liest. Von den fünfzehn im Raum Befindlichen sind es sechs, die ab und an einen Blick in die Tageszeitung werfen. Von diesen sechs kaufen sich drei sporadisch Druckwerke wie ‚Die Zeit‘, die ‚Süddeutsche‘ oder die ‚Frankfurter Allgemeine‘. „Und woher beziehen Sie hauptsächlich die Informationen über das Tagesgeschehen?“ will Alexander nun wissen. Drei geben das Fernsehen als Quelle an, der überwiegende Teil das Internet.
„Mein Freund hat die ‚Junge Welt` abonniert“, gibt Julia zu, was mit „das ist doch ein Kommunistenblatt“ kommentiert wird. „Besser als Scheiss-BILD“, retourniert Julia. „Was ist Ihrer Ansicht nach an BILD Scheisse?“ will Alexander wissen. „Na, abgesehen davon, dass das Meiste darin erstunken und erlogen ist, wird damit Meinungsmache betrieben.“ „Aber mit Deinem roten Blatt nicht, oder was?“ „Da stehen Informationen drin und keine Behauptungen, die dann auch noch falsch sind…“
„Wie lassen sich diese Informationen, ob aus Zeitungen, Fernsehen oder dem Internet, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen?“ „Naja“, meldet sich nach kurzem überlegen die Studentin von vorhin zu Wort, „dies hängt schon von der Seriosität der Quellen ab…“ „…Ob Sie einer Meldung Glauben schenken, oder eher nicht?“ „Ääh, ehm, ja.“ „Und genau dort fängt die Sache an, interessant zu werden“, lässt Professor Vogelsang verlauten. „Im Grunde ist es in den wenigsten Fällen möglich, eine Information, eine Aussage, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Beispiel: Jemand aus ihrem Bekanntenkreis steckt ihnen, dass ihr Freund oder ihre Freundin fremd gegangen ist. Was tun sie? Gehen sie zu ihm, zu ihr und fragen, ob es stimmt? Was werden sie als Antwort erhalten? ‚Ja, das stimmt, Schatz! Ich habe mal wieder Bock gehabt…‘? Alexander registriert, dass einige Gesichter rot angelaufen sind. „Oder glauben sie ihrem Bekannten, weil er vertrauenswürdig ist, eine seriöse Quelle sozusagen…“ „Ich würd dem Typen eins aufs Maul hauen, der meine Freundin anfasst“, lässt ein Schlaks verlauten, der sich bislang nicht an der Diskussion beteiligt hat. „Und tun damit genau dies, was ihr Kumpel erreichen wollte!“ „Hä?“ „Na, Derjenige, der Ihnen das mit dem Fremdgehen erzählt hat, hat mit dem Typen, der angeblich bei Ihrer Freundin war, noch eine Rechnung offen, traut sich aber nicht, dies persönlich zu begleichen, und sucht sich stattdessen einen anderen, der an seiner Statt die Dresche verteilt.“ „Ach, und mit dem Fremdgehen stimmte dann gar nicht?“ fragt der Schlaks nach und bekommt dafür den Kommentar „Blitzmerker“ von einem anderen Studenten.
„Das Gerücht“, beginnt Alexander Vogelsang nun mit seinem eigentlichen Vortrag, „ist eines der ältesten Mittel in der Menschheitsgeschichte, um jemanden unbeliebt zu machen, in Misskredit zu bringen oder für irgendetwas die Schuld in die Schuhe zu schieben. Es ist gleichzusetzen mit der Lüge, funktioniert jedoch wesentlich subtiler, weil zumindest ein Teil von dem Gerücht tatsächlichen Begebenheiten entspricht…“
„Wie bei den Verschwörungstheorien?“ „Ja, so ähnlich. Wobei Verschwörungstheorien gerne ablenken sollen von anderen, eigentlichen Sachverhalten.“ „Zum Beispiel?“ Alexander muss kurz überlegen. „Sagt Ihnen die Titanic-Verschwörung etwas?“ Kopfschütteln. „Nun, die Titanic-Verschwörung besagt, dass damals nicht die Titanic gegen eine Eisberg lief und sank, sondern ein anderes, baugleiches Schiff, die Olympic…“ „Aber es wurden doch Wrackteile der Titanic gehoben!“ „Richtig! Laut der Verschwörungsthese sollte mit dem Austausch der beiden Schiffe ein Versicherungsbetrug vollzogen werden, was jedoch umstritten ist, da es Informationen gibt, dass die Titanic unterversichert war. Es gibt jedoch ein paar Fakten, die zu denken geben. Ein gewisser J.P. Morgan gilt als einer der Finanziers, die neben anderen den Bau der Titanic ermöglichten. Jener J.P. Morgan ließ das als unsinkbar geltende Schiff in Millionenhöhe bei Lloyds versichern. Kurz vor Fahrtantritt sagte Herr Morgan die Teilnahme an der Jungfernfahrt ab…“
In dem Raum ist es scheinbar zu hören, wie die Gehirne der jungen Menschen dort arbeiten. „Dann ist die Titanic absichtlich auf einen Eisberg gelenkt worden?“ „Nein, so weit würde ich nicht gehen. Sehen Sie, ich schätze diesen J.P. Morgan als einen Spieler ein. Bei dieser Fahrt ging es um die Prestigefrage, als schnellstes Schiff zu gelten. Auch nur als Zweiter oder sogar dahinter liegend das Ziel zu erreichen, galt nicht als Option. Also wurden die Eisbergwarnungen ignoriert und die Geschwindigkeit und der Kurs beibehalten.“ „Aber dieser J.P. Morgan muss doch etwas gewusst oder zumindest geahnt haben, sonst hätte er die Fahrt doch nicht abgesagt.“ Alexander breitet die Arme aus, die Handflächen nach oben haltend. „Darüber kann lediglich spekuliert werden. Wir wissen es nicht.“ „Und wovon soll nun dieser angebliche Schiffstausch ablenken?“ „Bitte? Ach so, ja. Gute Frage…“ Alexander merkt, dass dieses Beispiel schlecht gewählt ist für seine vorangestellte These.
„Wie verhält es sich mit den Protokollen der Weisen von Zion?“ lenkt Julia die Diskussion auf ein neues Thema, was dem Professor durchaus recht ist. „Die sind doch ne Fälschung, oder?“ will ein Student wissen. „Ich halte den Begriff Fälschung hier für nicht unbedingt passend. Die Protokolle wurden Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20.Jahrhunderts verfasst, von wem, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Einige Quellen behaupten, es sei ein Machwerk des russischen Geheimdienstes, was ich jedoch für eine nicht nachweisbare Vermutung halte…“ „Was ist das, diese Protokolle?“ „Ein 24-Punkte-Plan zur Erlangung der Weltherrschaft“, wird die Frage von einem anderen Studenten beantwortet, und Alexander räumt ein, dass er sich hätte vergewissern sollen, ob dies alle wüssten, und fährt fort: „Zum Ende des 19. Jahrhunderts lebte in Paris ein Freidenker Namens Leo Taxil, der antiklerikale Schriften verbreitete. Darin greift er die katholische Kirche an, verleumdet den Papst, fordert die Trennung von Kirche und Staat und so weiter.Während dieser Zeit besucht er Veranstaltungen von französischen Freimaurern, wird dort zuerst auch aufgenommen, doch bereits kurze Zeit später aufgrund von Unwürdigkeit wieder ausgestoßen.
Was nun tut Jogand-Pages, so sein richtiger Name, daraufhin? Er verbreitet wieder Schriften, diesmal Enthüllungen über die angeblich satanischen Freimaurer, und erreicht damit jene Zielgruppe, über die er vorher hergezogen hat: die Katholiken. Kann es nun sein, dass aus der Feder von Jogand-Pages alias Leo Taxil auch die Protokolle stammen? Oder wenn nicht von ihm selber, dann von Nachahmern, die mit diesem Pamphlet sowohl den ungeliebten Freimaurern als auch den verhassten Juden eins auswischen wollten?“
„Entschuldigung, ich hab auch mal ne Frage!“ „Sie brauchen sich nicht für Fragen zu entschuldigen. Bitte, um was geht es?“ Es ist der Schlaks, der sich gemeldet hat. „Ääh, wir werden doch mit Sicherheit auch eine Klausur bei Ihnen schreiben?“ „Richtig, ja.“ „Und, ääh, zu welchem Thema?“ „Zu einem der Themen, über die meine Vorträge handeln: Informationen, Meldungen, Meinungen, sowie die Sprache, die darin verwendet wird…“ „Ääh, wir haben die ganze Zeit über irgendwelche Verschwörungstheorien gelabert…“ „Oh, ich hatte nicht beabsichtigt, Sie damit zu langweilen.“ „Nein, so war das nicht gemeint! Ich weiß nur nicht, was…“ „Hören Sie. Ich werde die Fragen diesbezüglich so formulieren, dass Sie dazu reichlich Informationen im Netz finden. Scheuen Sie aber nicht einen Gang in die Biblio, um dort den einen oder anderen Blick in weiterführende Literatur zu werfen…Bücher, comprende?“
„Also werden wir genügend Vorbereitungszeit haben?“ wird von einer weiteren Kursteilnehmerin gefragt. „Selbstverständlich! Sie bekommen von mir die Fragen formuliert, und arbeiten diese anschließend hier oder zuhause aus. Ihre fertigen Arbeiten lassen Sie mir per E-Mail zukommen oder können Sie mir auch ausgedruckt geben.“
„Wann können wir mit der Klausur rechnen?“ will der Schlaks nun wissen, was den Gefragten etwas unwirsch reagieren lässt: „O, ey, bin ich Jesus, wächst mir Gras aus der Tasche? Ich gebe hier an der Uni noch für andere Studentinnen und Studenten Vorträge, zudem unterrichte ich an einer weiteren Uni Germanistik…“ Und darüber hinaus versuche ich gerade in meinem Privatleben Leute wiederzufinden, die sich der Dunklen Macht entgegenstellen, damit ihr hier eine einigermaßen akzeptable Zukunft erleben dürft, hätte Alexander am liebsten noch hinzugefügt, beantwortet die Frage im moderaten Ton. „Ich denke, kommenden Freitag werde ich Ihnen das Thema für die Klausur bekannt geben. So, wie spät haben wir es? – Gut, dann werde ich in den verbleibenden zwanzig Minuten das Thema Sprache noch etwas vertiefen…“
Für Julia stehen an diesem Montag keine weiteren Vorträge mehr auf dem Plan, und so begibt sie sich auf den Weg zurück in die Kleine Stadt.
In der Straßenbahn, beim Hauptbahnhof und in der Regio-S-Bahn sieht sich Julia umgeben von Menschen, die völlig versunken mit ihren Handys beschäftigt sind. Die junge Frau fühlt bei ihrem Anblick Traurigkeit und Wut in sich aufsteigen, darüber, dass sich diese Menschen freiwillig in eine Abhängigkeit begeben haben. Statt eines Gottes beten sie einen Bildschirm an, der ihnen Freiheit und ein Individuum zu sein vorgaukelt, mit den ständig verfügbaren Informationen, dem Zugehörigkeitsgefühl, die Glücksmomente und Zufriedenheit, die so schnell auftauchen und wieder verschwinden, wie Sternschnuppen, noch bevor ein Wunsch in den Gedanken einen Halt finden und wachsen kann.
Es bedarf keiner geheimen Gesellschaften, die im Verborgenen ihre weltumfassende Kontrolle ausüben. Und selbst mächtige Despoten, Manager und Bankiers stehen unter dem Einfluss dieser kleinen Geräte, ohne die sie es nicht mehr wagen wollen, eigenständig zu denken, zu urteilen und Entscheidungen zu treffen. Sie alle haben sich zu Sklaven des Funkturms gemacht, der elektromagnetische Impulse aussendet, die ihrer aller Lebenstakt bestimmen, der von mal zu mal schneller wird…
Diese Gedanken beschäftigen Julia, als sie am Bahnhof der Kleinen Stadt aussteigt, wo sie am Morgen ihr Fahrrad abgestellt hat. Sie entscheidet sich spontan zu einem Besuch beim Kiosk, bevor ihr Unterricht bei der Fahrschule beginnt.
Als Julia sich dem Vorplatz nähert, sieht sie Armin dort stehen und sich mit einer Frau dort unterhalten. Die beiden rauchen, Armin hat gerade etwas gesagt und die Frau lacht. Julia spürt in Wellen Eifersucht und mit ihr zusammen die Verlustängste aus ihrer Kindheit herrührend in sich ausbreiten. Aufgewachsen ist sie bei Pflegeeltern, ihren Vater hat sie nie kennengelernt, und irgendwann erfuhr sie, dass die ab und an zu Besuch kommende nette Frau ihre leibliche Mutter ist, die kurze Zeit darauf den Kontakt zu ihr abgebrochen hat…
Julia will sich abwenden, weggehen, um alleine zu sein mit ihren Ängsten, da erblickt Armin sie, wirft seinen rechten Arm in die Höhe und winkt ihr zu. Sein ganzes Gesicht ist ein strahlendes Lachen. Nein, denkt sich Julia, so reagiert kein auf frischer Tat ertappter Fremdgeher. So geht sie auf die beiden zu, ihr Rad rechts neben sich herschiebend. ‚Das Mädchen ist hübsch‘, quasseln die Stimmen in ihrem Kopf weiter, ‚sie ist wohl etwa so alt wie ich…‘
„Hi, Julia“, tönt es ihr entgegen. „Darf ich vorstellen: Marjana. Unsere neue Mitarbeiterin. Sie wird uns vertreten, wenn Enrico und ich unseren Urlaub nehmen. Ich habe Dir noch nichts erzählt, da ich warten wollte, bis alles in trockenen Tüchern ist…“ „…Und das ist es jetzt!“ Marjana reicht Julia die Hand. „Und Du bist Julia, Armins Freundin? Es freut mich, Dich kennenzulernen.“ ‚Diese offenen, ehrlichen Augen‘, schwärmt es jetzt in Julias Kopf, während sie Marjanas Hand ergreift. ‚Und dieser Akzent. Kann es sein, dass…?‘ „Ich bin gleich wieder bei euch“, sagt Armin und folgt einem Kunden in den Verkaufsraum. „Wie wärs mit einem Kaffee?“ „Oh ja, bitte!“ „Für mich mit viel Milch.“ „Wollen wir uns auf die Stühle setzen?“ „Ja, gerne.“ Julia hat ihr Fahrrad neben das von Armin gestellt und gesellt sich zu Marjana. Diese beginnt zu erzählen, Julia hört zu, sagt, dass sie von der Studentengruppe gehört habe.
„Soo, hier ist der Kaffee!“ Armin ist mit einem Tablett zurückgekommen, verteilt die Becher und nimmt mit Seinem auf dem letzten freien Stuhl platz. In dem Moment taucht Enrico auf, ebenfalls berädert, wird von Armin mit „was willst Du denn hier, Alter? Du hast Urlaub“, begrüßt. „Ach, ich dachte, erst ab morgen…“ „Willst Du auch nen Kaffee?“ Enrico lehnt ab und hockt sich auf den Boden, seinen Rucksack als Unterlage nehmend. Auf der Umgehungsstraße rauscht der Verkehr vor sich hin, und hinein in das monotone Motorenkonzert ist die Arie eines Sangeskünstlers zu hören, der dort seit einiger Zeit seine Botschaft in die Welt hinausträllert, dass er auf der Suche ist nach einer Artgenossin, die daran interessiert ist, ein gemeinsames Nest zu beziehen und ihren Nachwuchs großzuziehen.
„Hört ihr den Vogel auch?“ wird von Marjana gefragt, was von Julia bejaht wird. Auch bei Enrico ertönt ein Signal, das ihn sein iPhone zücken lässt. „Hey, es ist Marvin! Er fragt, ob ich bei ihm vorbeikommen kann. Das passt ja…“ Enrico steht auf, zusammen mit ihm Julia, die ihren Kaffee austrinkt und verkündet, dass sie gleich noch Fahrschule hätte.
Armin bekommt von Julia einen Kuss, wünscht Enrico erholsame Urlaubstage, sammelt die leeren Becher ein, fragt Marjana, ob sie noch einen Kaffee möchte, was von ihr dankend abgelehnt wird, und entschwindet in den Kiosk. So sitzt Marjana dort, in der Kleinstadt eines Landes, von dem sie vor zwei Wochen noch nicht gewusst hat, ob sie es wieder verlassen müsse, zurück in ihr Heimatland, einer ungewissen Zukunft entgegen, in der die Weltregierungen Machtkämpfe würden beginnen auszufechten; für die Verschiebung von Grenzen, um die Eroberung von Land zu strategisch wichtigen Zwecken. Und ob die dort agierenden nationalen Freiheitskämpfer sich tatsächlich für die Freiheit der dort lebenden Menschen einsetzen, sei dahingestellt.
Marjana entfährt ein Seufzer. Sie kann die Beweggründe ihrer Mitstudentinnen und -studenten verstehen, die in den Zeiten der Not bei ihren Familien sein wollen. Aber die Bilder von Kriegsszenarien aus dem Irak oder Afghanistan hat sie die Entscheidung treffen lassen, nicht mitzugehen. Wem nützt der Tod, vielleicht durch einen Heckenschützen besiegelt, oder durch eine Rakete, abgefeuert von einer Drohne, die von Leuten in einem Gefechtszentrum hunderte Kilometer entfernt gesteuert wird, aufgrund von ‚sicheren‘ Informationen, dass es sich bei dem angegebenen Ziel um eine Militärbasis handeln soll. Rückfrage. Bestätigung. Die Koordinaten sind eingegeben, das Ziel wird anvisiert. Und Feuer! Mist. War wohl doch kein Militärstützpunkt. Hat sich um einen Kindergarten gehandelt, in dem sich zum Zeitpunkt der ‚militärischen Intervention‘ etwa dreißig Kinder plus ihrer BetreuerInnen aufgehalten haben. Die Kleinen werden es nun nicht mehr erleben, was es bedeutet, heranzuwachsen, einen Beruf zu erlernen, das erste Mal verliebt zu sein, eine Familie zu gründen… Und wie soll nun vorgegangen werden bei der Identifizierung der Toten? Ist ja alles bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Moment! Der kleine qualmende Schuh da hinten, mit dem grünen Elefanten drauf – hat der nicht Irina gehört? Ach guck, steckt ja sogar noch das Füßchen drin…
„Wie schauts aus, Marjana? Hast Du noch irgendwelche Fragen?“ Die Angesprochene schreckt aus ihren Gedanken hoch, sieht Armin vor sich stehen, bewegt ihren Kopf. „Nein, Du hast mir alles erklärt, denke ich.“ „Gut, dann mache ich jetzt Feierabend. Wenn was ist: Du hast meine Mobilnummer. Ansonsten sehen wir uns morgen Mittag.“ „Ja, alles klar, bis morgen.“ Marjana sieht Armin davonfahren und folgt einem Kunden, der den Kiosk betritt.
„Grüß Dich Enno! Komm rein!“ Enrico folgt Marvin ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa sitzt Saskia, Marvins Freundin, die gerade dabei ist, eine Hookah vorzubereiten. Auch sie begrüßt den neu Hinzugekommenen, fragt, ob er mitrauchen will. Enrico lehnt dankend ab, verweist auf die vier Halben, die er eben noch beim Supermarkt besorgt hat, nimmt in einem Sessel platz und holt eine der Flaschen aus seinem Rucksack, entkorkt sie mit einem Feuerzeug.
Marvin hat sich ebenfalls in einem Sessel niedergelassen, verkündet „Alter, wir haben Neuigkeiten! Wir sind auf einen ziemlich großen Fisch gestoßen, in dem Haifischbecken sozusagen, und der wohnt hier in der Stadt!“ Marvin ergreift die von Saskia angerauchte Wasserpfeife, hält das Feuerzeug an den Kopf, inhaliert, entlässt den Rauch.
„Wieso, was macht der?“ Marvin will die Hookah an Saskia zurückgeben, doch die winkt ab. So stellt er das Gerät auf den Tisch, nimmt eine Filterzigarette aus der dort liegenden Schachtel. „Dieser Typ ist bei einer Rüstungsfirma tätig. Und dort ist er nicht bloß ne kleine Büroratte oder n Programmierer, was an sich ja schon unverzeihlich ist – nein! Dieser Wichser ist verantwortlich für den, nennen wir es mal ‚Export‘ der Gerätschaften seiner Firma!“ „Und wie seid ihr auf den gekommen?“ will Enrico weiter wissen, und Saskia erklärt es ihm: „Wir sind einfach mal im Netz rumspaziert nach deutschen Rüstungsfirmen, die so am Krieg im Irak oder Afghanistan beteiligt waren. Dabei landeten wir bei einer Firma mit Sitz in der Nachbargroßstadt, die wohl nicht direkt Waffen herstellt, aber Gerätschaften konstruiert, mit denen Kriegsschauplätze und Kampfsituationen simuliert werden. Und diese Geräte werden Ländern, besser gesagt Militärs zur Verfügung gestellt, die daran ihre Soldaten ausbilden…“ „…Zum töten“, ergänzt Marvin, um klarzustellen, dass es sich dabei nicht um Vorbereitung oder Durchführung von Manövern handelt.
„Also überlegten wir uns: wehret den Anfängen, und haben uns entschieden, dort anzusetzen. Und als wir nach Namen googelten, eben Vorstandschefs oder so, da stießen wir auf den Herrn Grüngarten…“ „…Und eben dieser Herr Grüngarten“, fährt Saskia nun fort, „hat sich mit russischen Oligarchen getroffen, von denen einer jetzt tatsächlich Waffenhändler ist, und eine rechte Organisation, Steinadler, oder so ähnlich, damit versorgt. Das sind eben Jene, die da in der Ukraine rumballern…“
„Wie hast Du gesagt, heißt der Typ?“ wird von Enrico nachgefragt, woraufhin ihm Marvin nochmal den Namen nennt. „Den kenn ich“, lässt Enrico da verlauten. „Bei einem Ehepaar mit diesem Namen wohnt Marjana, unsere neue Aushilfe. Sie kommt aus der Ukraine und kann hier bleiben, weil sie von den beiden als Au pair angestellt worden ist…“ Diese Aussage lässt Marvin und Saskia auflachen. „Das passt zu unserem Dieter. Er gibt gerne den sozial engagierten Menschen.“ „Und was habt ihr nun vor?“ „Wir werden dem Herrn einen Brief schreiben.“ „Einen Brief? Und ihr meint, das wird es bringen?“ „Auf einen Versuch kommt es an. In dem Schreiben werden wir ihn unmissverständlich dazu auffordern, seine kriegsunterstützenden Maßnahmen zu unterlassen, und sich nach einem anderen Job umzuschauen…“ „Er kann ja nen Landschaftsgartenbetrieb aufmachen, oder nen Schnellimbiss“, schlägt Marvin vor. „Und wenn er darauf pfeift?“ „Dann kommt ein Sprengsatz zum Einsatz!“ „Wow! Wollt ihr ihn mit seinem Auto in die Luft jagen?“ „Neinnein. Wir haben eher an einen Knaller in den Briefkasten gedacht, oder so, als Warnung.“ „Ach so…“ Enrico scheint nicht so ganz überzeugt von der Aktion zu sein, nimmt einen Schluck Bier. „Klar, er muss schon überzeugt sein, dass wir es ernst meinen“, greift Saskia Enricos Reaktion auf. „Solche Typen wie der Grüngarten müssen aufgehalten werden. Das sind Psychopathen. Und zudem haben sie ziemlich großen Einfluss. Der vorhin erwähnte russische Oligarch – mir fällt jetzt der Name nicht ein – (auch Marvin muss passen) hat wiederum Beziehungen zu den derzeit dort mächtigen Politikern, das heißt, zum Putin oder zum Janukowicz, vielleicht auch zu beiden…Jetzt hab ich Durst bekommen vom vielen labern. Hast Du vielleicht n Bier übrig?“ „Klar.“ Enrico holt eine Flasche aus dem Rucksack, stellt sie vor Saskia auf den Tisch. Sie öffnet ebenfalls mit einem Feuerzeug, nimmt einen Schluck aus der Flasche.
„Und bei diesen Treffen hängen auch die deutschen Außen- und Verteidigungsminister rum“, gibt Marvin noch dazu, um gleich darauf klarzustellen, dass es sich hierbei nicht um irgendein Verschwörungsgelaber handelt. „All das steht in Tages- oder Wochenzeitungen zu lesen; nur halt immer ausschnittweise, als Randbemerkung, als Nebensatz in einem kleinen Artikel. Es ist wie ein Puzzle, bei dem man die Teile zusammenfügen muss…“
„Nur in der Bildzeitung hatte er noch keinen Artikel“, bemerkt Saskia, woraufhin Marvin lostextet: „Dieter G. kollaboriert mit russischen Nazis – wann ist es auch in Deutschland wieder so weit?“ Saskia prustet los, verschluckt sich fast am Bier.
„Und wann soll die Aktion starten?“ fragt Enrico nach. „Die mit dem Brief, meine ich.“ „Irgendwann die Tage werden wir uns hinsetzen und das Schreiben formulieren. Vielleicht hast Du ja auch Ideen dazu…“ „Ich hab irgendwo zuhause noch Böller rumliegen, nur für den Fall…“ „…Dass er auf unser Schreiben nicht anspringt? Ja, cool!“ „Wie lange wollt ihr ihm Zeit lassen zu reagieren?“ „Ich weiß nicht. Was meinst Du, Sas, zwei, drei Wochen?“ „Ja, mindestens, wenn nicht sogar länger! Du musst bedenken, dass wir von dem Typen fordern, dass er sein Leben ändert!“ „Naja, zumindest seinen Beruf wechselt. Aber das sollte für Dieter eigentlich kein Problem darstellen, oder?“ „Nö, eigentlich nicht, bei den Verbindungen, die der hat. Vielleicht kann er ja in die Politik wechseln…“ „…Oder er steigt ins Drogengeschäft ein!“ „Liegt ja alles nahe beieinander!“
„Apropos“, fällt Enrico da ein, „kannst Du mir noch was mitgeben, so für nen Zwannie?“ „Klar. Wieso, wollst los?“ „Ja, was essen. Und dann mich etwas aufs Ohr hauen…“ „Und was hast Du vor in Deinem Urlaub?“ will Saskia wissen, und als Enrico die Schultern zuckt, schlägt sie ihm vor, doch morgen abend vorbeizugucken, dann könnten sie gemeinsam den Brief verfassen und danach noch nen Film gucken. Enrico stimmt zu, holt einen 20Euro-Schein aus der Brieftasche und bekommt von Marvin ein Tütchen mit zwei Gramm der gewünschten Ware. „White Widow“, deklariert er die Ware. „Klasse Qualität.“ Enrico schnuppert daran, nickt anerkennend und steckt das Gras in Tasche seiner Jacke.
„Ich mach mich auch los“, verkündet Saskia, „noch was für die Uni tun…“ „Ja, lasst mich nur allein“, quäkt Marvin und bekommt einen Kuss von seiner Freundin aufgedrückt. „Bis morgen, mein Großer – und such nen schönen Film raus!“ „Okay, dann bis morgen Abend, so gegen acht?“ was von Marvin mit einem Kopfnicken bestätigt wird, und dann sind Enrico und Saskia aus der Wohnung raus, und Marvin schnappt sich erstmal die Hookah und nimmt erneut einen ordentlichen Zug…
Georgina hat die Ladentür abgeschlossen, und sitzt nun am Küchentisch, vor sich einen Becher mit Pfefferminztee und ein mit einem Lesezeichen versehenes Buch.
Über den Tag verteilt sind zehn Kunden bei ihr im Laden gewesen, die meistens gezielt nach etwas gesucht haben und bei Georgina fündig geworden sind: ein Brieföffner mit einem Horngriff, eine Taschenuhr, verschiedene in Leder gebundene Bücher, darunter eine Ausgabe von Otto von Corvins Pfaffenspiegel. Kurz bevor sie Feierabend machen wollte betrat ein Mann den Verkaufsraum, erblickte das Bücherregal, setzte eine Brille auf, studierte die Titel. Einmal nahm er eines der Bücher aus dem Regal, schlug es kurz auf, stellte es wieder an seinen Platz zurück. Gerade wollte er den Laden wieder verlassen, da fiel sein Blick auf das chinesische Teeservice. Vorsichtig nahm er eine der Tassen in beide Hände, betrachtete das mit feinem Pinsel aufgetragene Motiv.
„Es ist komplett, sechsteilig, mit Kuchentellern und Zuckerdose“, erläuterte Georgina, die neben den Mann getreten war. „Ich habe schon lange nach so etwas gesucht“, antwortete der Mann. „Was soll es denn kosten?“ Georgina nannte einen Preis, und der Kunde willigte sofort ein, worüber die Frau ein wenig enttäuscht war, denn sie handelte sehr gern. „Sind Sie mit dem Auto da?“ „Ich fahre mit dem Zug.“ „Möchten Sie es sofort mitnehmen? Dann verpacke ich es Ihnen sicher in einem Karton.“ Der Mann überlegte kurz, nickte, und Georgina suchte einen passenden Karton sowie Füllmaterial, um den Transport so bruchsicher wie möglich vorzubereiten. Zum Schluss versah sie das Paket noch mit einer Schnur, band es zu einer Schleife, die als Tragegriff diente. „So sollte es gehen.“ Wieder nickte der Mann, holte eine Geldbörse hervor, und Georgina geleitete ihn zu dem Ladentisch, auf dem eine alte Registrierkasse steht. Sie gab den Betrag über die Tasten ein, die Bargeldschublade sprang mit einem Klingelton auf. Als der Mann Georgina das passende Geld überreichte, musterte er sie über den Rand seiner Brille, so, als würde sie ihn an jemanden erinnern.
„Dann wünsche ich Ihnen viel Vergnügen mit dem Service.“ „Ja, danke.“ So griff der Mann nach dem Paket und strebte nach einem knappen „tschüß“ der Tür entgegen, dies in einer leicht gebeugten Körperhaltung und vorgestrecktem Kopf, was den Eindruck eines zeitlosen Menschen erwecken konnte. Mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung schaute Georgina dem Mann hinterher, wie er hinaus auf die Straße trat und die Ladentür sorgfältig wieder hinter sich schloss.
Man warf mir vor, dass ich der Utopie anhinge, die Unlust aus der Welt zu schaffen, und einzig die Lust sichern zu wollen. Dagegen stand meine Behauptung in Schrift und Wort, dass die übliche Erziehung den Menschen lustunfähig macht, in dem sie ihn gegen die Unlust panzert. Lust und Lebensfreude sind ohne Kampf, schmerzhafte Erfahrungen und unlustvollen Kampf mit sich undenkbar. Nicht die Leidlosigkeitstherapie der Yogi und der Buddhisten, nicht die Genussphilosophie des Epikur, nicht die Entsagung des Mönchstums sondern der Wechsel von unlustvollem Kampf und Glück, von Irrtum und Wahrheit, Fehltritt und Besinnung, rationalem Hass und rationaler Liebe, kurz, die volle Lebendigkeit in allen Lebenssituationen ist das Kennzeichen seelischer Gesundheit. Die Fähigkeit, Unlust und Schmerz zu ertragen, ohne enttäuscht in die Erstarrung zu flüchten, geht einher mit der Fähigkeit, Glück zu nehmen und Liebe zu geben.
Um mit Nietzsche zu reden: ‚Wer das Himmel-hoch-Jauchzen lernen will, muss sich auch für das Zum-Tode-betrübt bereit halten.‘ Unsere europäische gesellschaftliche Anschauung und Erziehung machte aber aus den Jugendlichen, je nach der sozialen Lage, entweder in Watte gepackte Püppchen oder ausgedörrte, lustunfähige Maschinen der Industrie und des Geschäfts.
Georgina legt das Buch mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten auf den Tisch, lehnt sich zurück, schließt die Augen.
Während seiner damaligen Forschungen will Wilhelm Reich eine Energie entdeckt haben, die sich sowohl in der Atmosphäre als auch in den Zellen aller lebenden Wesen befindet;eine bioelektrische Energie, Reich nennt sie Orgon, die auch den menschlichen Organismus umgibt, und die er in den blauen Farben des Himmels als das atmosphärische Orgon zu erkennen glaubt, wenn auch diese Behauptung etwas kindlich-naiv anmutet.
Weshalb, so fragt sich Georgina, haben so viele der Menschen ihre Verbindung zu dieser Lebensenergie verloren, oder sie nie aufbauen können? Manche mussten sich, so bezeichnet es Reich, einen Seelenpanzer zulegen, um zu verhindern, an traurigen, an schrecklichen Ereignissen zu zerbrechen. An Ereignissen wie der Tod eines nahestehenden Menschen, Enttäuschung über eine zurückgewiesene Liebe oder die Kündigung des Arbeitsplatzes. Oder an Begebenheiten wie Armut, Hunger, Krieg, Zerstörung von Lebensräumen, wenn auch nicht unbedingt direkt davon betroffen, so sich dessen doch bewusst.
Diese Verpanzerung hat nun zur Folge, dass auch positive Gefühle wie Glück oder Zuneigung ebenfalls nicht mehr erlebt werden können, ohne dass dazu immer häufiger Stimulanzien benötigt werden: Medikamente, Alkohol und andere Drogen reizen die Sinne, schnelle Autos, teurer Schmuck und extravaganter Urlaub sollen zu Glücksgefühlen verhelfen. Statt des Austausches von Zärtlichkeit rückt die schnelle Befriedigung der eigenen Lust in den Vordergrund. Viele Menschen sind nicht mehr in der Lage, Zuneigung zu geben und Nähe zu ertragen. Sie wenden sich voneinander ab, verschließen sich in ihre eigenen Welten, begegnen sich zuletzt nur noch als Avatare in second life.
Georgina schimpft sich nach diesen Gedankengängen eine Schwarzseherin. ‚Im Moment bist Du Diejenige, die sich auf eine einsame Insel zurückgezogen hat‘, spricht ihr anderes Ich zu ihr, ‚weil Du in der Vergangenheit verletzt und enttäuscht worden bist`. ‚Weil wir feststellen mussten, dass unsere Kräfte nicht ausreichten‘, antwortet Georgina Ponee. ‚Und Du fühlst Dich schuldig, versagt zu haben?‘ ‚Ich weiß nicht…Ich war damals fest der Überzeugung, durch den Aufenthalt im Tank unbesiegbar zu sein!‘ ‚Hat Diego das so gesagt?‘ ‚Nein! Er hat uns lediglich dabei geholfen, zu uns selbst zu finden.‘ ‚Aber das genügte Dir nicht, Du wolltest Macht.‘ ‚Quatsch, Macht! Wir wollten die Welt verändern. Und das, ohne irgendjemanden von uns abhängig zu machen oder unseren Willen aufzuzwingen.‘ ‚Dies hat dann Mister Abaw getan…‘ ‚…Das weiß ich nicht. Ich bin diesem Mister Abaw bisher noch nicht begegnet.‘
Damit ist der innere Dialog beendet. Georgina trinkt ihren Tee aus, begibt sich in die Schlafkammer, entkleidet sich und zieht ihren Nachtanzug an, geht noch einmal auf die Toilette zum pinkeln, Hände waschen und Zähne putzen. So geht sie zu Bett, rekapituliert die Geschehnisse des Tages, freut sich auf das morgige Treffen mit Alex und Khalil und ist gespannt darauf, die anderen Menschen kennen zu lernen. Zum Abschluss spricht Georgina ihr Kraftgebet, und kurz darauf ist sie eingeschlafen…
…Und erwacht in einem Zimmer in der Traumwelt. Durch das vorhanglose Fenster dringt Tageslicht in den karg möblierten Raum. Die Frau steht auf, begibt sich zu dem an der Seitenwand stehenden Tisch, schlägt ein dort liegendes Heft auf, liest die von ihr zurückgelassenen Notizen, öffnet dann die Tür und tritt in den Flur. Das Licht dort ist sepiafarben. Von den Wänden und der Decke ist der Putz abgefallen, der auf dem Betonboden liegt. Die Türen zu den anderen Räumen stehen teilweise offen. Georgina geht zum Ende des Flures, wo sich das Treppenhaus befindet, steigt die Stufen hinab zum Erdgeschoss und gelangt zur Eingangstür, deren linker Flügel ein großes Loch aufweist. Vorsichtig tappt Georgina aus dem Gebäude hinaus ins Freie, darauf achtend, dass sie sich ihre nackten Füße nicht an den Glasscherben schneidet.
Die Frau schaut auf Hochhausblöcke und darin befindliche Geschäfte. Alles wirkt seit längerer Zeit sich selbst überlassen und zeigt Anzeichen von Verfall. In einiger Entfernung sieht sie Jemanden auf einer Bank neben der Straße sitzen. Sie kann nur vermuten, dass es sich um eine Frau handelt, da es ihr wie eine Luftspiegelung erscheint.
Da löst sich die Umgebung auf, wechselt zu einem anderen Ort. Die Frau befindet sich in einem Badezimmer, und weiß im selben Moment, dass sie sich in dem Haus von damals befindet. Das Fenster von dem Bad steht offen. Draußen ist ein zwielichtiges Grau zu erkennen, welches dabei ist, in den Raum einzudringen. Ob sie dies verhindern kann, weiß die Frau, ist von ihrem Denken und Handeln abhängig. Die Tür des Badezimmers wird geöffnet, und Georgina sieht, wie ihr Ebenbild in blond den Raum betritt. Die blonde Georgina trägt lediglich einen Slip und Strümpfe an den Füßen. Ihr Gesicht zeigt Erstaunen darüber, sich selbst dort an dem Waschbecken stehen zu sehen. Sie schließt die Tür, schaut ihr Gegenüber erwartungsvoll an. Georginas Blick wandert an sich herab. Dabei sieht sie, dass ihre gesamte Kleidung in schwarz gehalten ist. Da erinnert sie sich an den Grund ihres Dortseins und spricht ‚ich habe auf Dich gewartet‘, zieht dabei ihre Jacke aus und legt sie über den Rand der Badewanne. Wortlos entkleidet sie sich, bis auf den Slip und die Strümpfe, und fordert ihr anderes Selbst auf, ihre Sachen anzuziehen. ‚Ich gehe jetzt zu George. Und Dich muss ich leider hier zurücklassen….‘ Sie sieht zu, wie die blonde Georgina ihre schwarze Jacke überstreift, verabschiedet sich mit einem Kuss, und dann entschwindet sie hinaus in den Flur. Draußen ist es bereits dunkel geworden, und Georgina kann die Sterne am Himmel erkennen. Da spürt sie erneut ihre Lebensenergie in sich ausbreiten.