Eat the rich

Die Frau schiebt mit einer Spülbürste die Essenreste von dem Teller, und befördert Kartoffeln, Gemüse, aber auch nicht aufgegessene Rinder- und Fischfilets in den dafür vorgesehenen Schweineeimer. Und, hat`s geschmeckt? Ja, aber sicher. Ist ja auch nicht billig, was die Köche da aus erlesenen Zutaten herrichten. Und warum fressen es die Leute dann nicht auf, was sie bezahlt haben, fragt sich die Frau, wäscht die letzten Teller und das Besteck mit der Hand ab, öffnet den fertigen Geschirrspüler und beginnt, ihn auszuräumen. Eben sind die letzten Gäste gegangen. Der Chef schließt die Tür hinter ihnen und macht sich an die Abrechnung. Er und die Frau sind jetzt alleine. Gleich hat sie Feierabend und wird nach hause fahren. Aber vorher… „Noch nen kleinen Absacker?“ „Klar, Dete, gerne.“ Die Küchenkraft streift die Gummihandschuhe ab und setzt sich auf einen der Barhocker. „Und was darfs sein?“ „Was trinkst Du?“ „Ich denke, heute Abend einen Grappa.“ „Gut. Für mich auch einen.“ Dete nimmt zwei passende Gläser aus dem Regal und schenkt ein. „Worauf trinken wir?“ „Vielleicht auf…weiterhin guten Umsatz?“ Dete stimmt lächelnd zu, „auf den Umsatz“, und nippt an seinem Grappa, während die Frau den Schnaps in eins wegzieht. „Noch einen?“ Sie nickt und hält ihm das Glas entgegen, bekommt es erneut vollgefüllt. „Auf Dich, Chef.“ „Auf Dich, Gee.“ Diesmal nippen beide. „Ja, der Laden läuft gut.“ „War nicht immer so, oder?“ Dete bewegt verneinend seinen Kopf. „Als ich das Ganze hier vor zwei Jahren übernommen habe, war er total heruntergewirtschaftet. Hab ich halt ein wenig das Konzept verändert…“ Die Frau nimmt einen weiteren Schluck vom Grappa. „Was mich ankotzt, ist, dass so viel von dem Essen zurückgeht.“ Der Restaurantinhaber nickt, trinkt sein Glas leer, schenkt auch sich noch ein zweites Mal nach. „Bert scheint`s egal zu sein, aber Ernie, der kriegt voll die Wut, wenn er das sieht.“ „Bert und Ernie?“ „Ja. Die beiden Köche. Ich finde, die sehen aus wie Ernie und Bert aus der Sesamstraße.“ Darüber muss Dete lachen, und dann kommt er auf einmal ins Sinnieren. „Einige der Gäste sind halt mit nem goldenen Löffel im Mund geboren. Die brauchten nie arbeiten, können quasi dabei zuschauen, wie sich ihr Geld vermehrt.“ „Sie lassen also ihr Geld arbeiten, wie es so schön heißt.“ Dete verneint. „Geld arbeitet nicht. Das ist eine der Lügen des kapitalistischen Systems. Menschen arbeiten. Menschen schaffen Werte.“ „Oder sie zerstören aus Profitgier die Umwelt“, entgegnet die Frau, und Dete pflichtet ihr bei. Er nimmt die leergetrunkenen Gläser und stellt sie gesäubert ins Regal zurück. „So, Feierabend. Mein Schatz wartet schon zuhause auf mich.“                                                  Die beiden Menschen verlassen das Restaurant, Dete steigt in sein Auto, die Frau in die Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Auf dem Bahnhofsvorplatz wird sie von einer jungen Frau um eine Mark angeschnorrt. Sie holt ihre Brieftasche raus, überlegt kurz, um dann dem Mädchen einen Fünf-Markschein entgegenzuhalten. Das Mädchen ergreift das Geld und wendet sich dem nächsten Passanten zu. Die Frau schaut ihr nach, wird durch die Begegnung an sich selbst erinnert, wie sie, im Winter 1981, vor dem Berliner Hauptbahnhof Leute um Geld anbettelte. Da war sie fünfzehn gewesen. Ihre Mutter hatte sich drei Monate zuvor im Keller ihres Einfamilienhauses erhängt; der Vater suchte Trost im Alkohol und bei ihr. Irgendwann nahm sie nach der Schule im Nachbarort den Bus nicht mehr zurück, kaufte sich von dem aus der Geldbörse ihres Vaters entnommenen Geld eine Zugfahrkarte, im Rucksack einen Schlafanzug, Wäsche zum wechseln, sowie das Pausenbrot und den Marsupilami, den ihr die Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Am dritten Tag machte sie Bekanntschaft mit Zotty, einer ein paar Jahre älteren Punkfrau, die in einem besetzten Haus in Kreuzberg wohnte, und sie unter ihre Fittiche nahm. In einem Zimmer dort konnte sie sich einquartieren, lernte nach und nach die anderen Bewohnerinnen und Bewohner kennen, unter ihnen eine Eva, die über ein Einkommen verfügte und damit zum großen Teil die Kommune versorgte. Eines Abends drangen laute Stimmen aus dem für Versammlungen genutzten Raum. Als sie mehr besorgt als neugierig die Tür öffnete, stritt Eva dort mit zwei Männern, die das Mädchen nicht kannte. Auf dem Tisch lagen gebündelte Geldscheine und Waffen unterschiedlicher Bauart. Sie wollte, eine Entschuldigung murmelnd, die Tür wieder schließen, da wurde sie von Eva hereingerufen, die sagte, dass sie den Grund für das Streitgespräch darstellte. An diesem Abend erfuhr sie, dass in dem Haus eine Zelle agierte, die sich zum Ziel gemacht hatte, das imperialistisch-faschistische System zu bekämpfen, und von Eva der Vorschlag gekommen war, das Mädchen in diese Aktivitäten mit einzubeziehen. Die zwei Männer sprachen sich anfangs dagegen aus, aber das Mädchen konnte sie überzeugen, sagte, ihr Vater sei ein Nazibulle, der sich an ihr vergangen habe, und sie bereit dazu sei, es dem Schweinesystem heimzuzahlen. So wurde ihr als erstes ein Pass besorgt, der sie drei Jahre älter machte und ihr eine neue Identität verlieh: Georgina Darling. Ihre Aufgabe wurde es, Orte auszukundschaften, an denen Anschläge verübt werden sollten. Zudem zeigte sie Geschick beim Zusammensetzen von Zeitzündern, und sie reinigte und lud Waffen. Eines Tages war Eva verschwunden. Man sagte Georgina, sie sei an einen anderen Ort zu einer anderen Gruppe versetzt worden. Als das Mädchen hörte, dass im Zuge des Widerstandskampfes auch Attentate auf Menschen aus Politik und Wirtschaft verübt werden sollten, schnappte sie sich die in einem Versteck gelagerte Glock und 150 Mark aus der Gemeinschaftskasse und nahm den Transitzug bis zum Grenzübergang Helmstedt. Sie suchte sich in Braunschweig ein günstiges Hotelzimmer, und als nach drei Tagen das Geld aufgebraucht war, betrat sie kurz vor der Schließung eine Sparkassenfiliale und forderte von dem zu dieser Zeit dort alleine diensttuenden Angestellten mit vorgehaltener Waffe die Herausgabe des Geldes. Der Mann, zugleich auch Filialleiter des Geldinstitutes, hätte den Knopf für den stillen Alarm drücken können, der ihn mit der Polizeistation verband, sah aber dieses Geschöpf dort stehen mit dem um das Gesicht gewickelten Schal und in der zitternden Hand die Pistole, sagte „Mädchen, mach Dich doch nicht unglücklich“. Im selben Augenblick brach die so Angesprochene in Tränen aus. Der Bankangestellte kam hinter dem Schalter hervor, schaute zur Uhr und schloss die Tür ab. Der gut zwanzig Jahre ältere Filialleiter, der den Vornamen Werner trug, besorgte der Ausreißerin eine Wohnung, konnte sie dazu überreden, ihren Realschulabschluss nachzumachen, und sah in ihr die Tochter, die er sich in der bis zu diesem Zeitpunkt fünfzehn Jahre bestehenden kinderlosen Ehe so sehr gewünscht hatte. Für das Mädchen war Werner jedoch nicht der Ersatzvater, und das gab sie ihm bei einem seiner Besuche in ihrer Wohnung unzweideutig zu verstehen. Neun Monate darauf gebar Georgina einen Jungen, ein Jahr später folgte ein Mädchen. Werner hielt dieses Doppelleben noch eineinhalb Jahre aufrecht, um endlich die schon seit langem als zerrüttet anzusehende Ehe zu beenden, und mit seiner Familie in ein kleines Eigenheim am Rande von Hannover zu ziehen. Werner konnte mit seiner Betätigung als Vermögensberater ihnen ein sorgenfreies Leben gewährleisten, während seine Partnerin ihre Rolle als Hausfrau und Mutter anstands- und klaglos ausfüllte. Lediglich zu einer Eheschließung war Georgina nicht bereit. Die Jahre gingen dahin, und irgendwann begann sich in der Frau eine innere Unruhe auszubreiten. Oft saß sie nur da und lauschte, nach irgendetwas, das ihr sagen konnte, wie es weitergehen solle. Werner fiel nichts auf, störte sich nicht an den immer öfter sich türmenden Bergen ungewaschener Wäsche, oder dass statt selbst gekocht ein Lieferservice angerufen wurde. Das Leben lief weiter, bis zu jenem Abend, an dem sie ihm sagte, dass sie sich fühle wie in einem Gefängnis, ihr die Luft zum atmen fehle, und dass sie weitermüsse, auch wenn sie noch nicht wüsste, wohin. Werner akzeptierte ihre Entscheidung, denn er wusste, dass es zwecklos sein würde, zu versuchen, Georgina zum weiteren Bleiben zu überreden. Am darauffolgenden Tag war sie fortgegangen, und weder Werner noch die Kinder sollten je erfahren, was aus ihr geworden ist.                           Georgina schließt die Tür zu ihrem Studio auf, findet eine Nachricht von George auf dem Anrufbeantworter. Wenn sie Lust auf ihn habe, würde er sich über einen Besuch von ihr freuen, sagt die Stimme. Seine Schicht geht bis fünf. Wenn sie möchte, könne er für sie beide etwas kochen. Bis nachher. Die Frau duscht sich den Arbeitsschweiß und -geruch vom Körper, zieht ihr Nachthemd an, liest noch etwas in einem Buch, und alsbald fallen ihr die Augen zu. So löscht Georgina das Licht, und kurz darauf ist sie eingeschlafen. Im Traum sieht sie einen ihr unbekannten Mann. Er sagt, dass er ihre Träume aufschreiben will und dass er sie in der Echtzeit treffen müsse. Am nächsten Morgen fasst Georgina einen Entschluss, da sie weiß, wo sie den Mann finden kann.