Sie holten ihn von der Arbeit ab. Er war gerade dabei, die fertig verpackten Kartons mit einem Gabelstapler zu dem bereitgestellten Container zu fahren, als sein Vorarbeiter ihm signalisierte, anzuhalten. „Da will Dich jemand sprechen.“ Auf seine Frage, um was es sich denn handele, bekam er ein Schulterzucken zur Antwort, aber der Blick des Vorarbeiters sagte ihm, dass er seinen Spind gleich ausräumen könne, wenn es sich um das handelte, wonach es aussah. Sie waren zu zweit, trugen zweckmäßige Kleidung in unauffälligen Farben; einer von ihnen hatte einen Pepitahut auf. Sie fragten, ob er Daniel Maurosei, und als er dies bestätigte, forderten sie ihn auf, mit ihnen zu kommen. Sein Einwand, dass er sich hier auf der Arbeit befände und nicht einfach weg könne, ließ sie ihre Köpfe hin- und herbewegen, ganz sachte, kaum merklich, und der mit dem Pepitahut schlug die Innenseite seiner Jacke auf, so dass ein Paar Handschellen sichtbar wurde. „Bitte zwingen Sie uns nicht, davon Gebrauch zu machen.“ Daniel verspürte Trockenheit im Mund und ein Kribbeln an den Haaransätzen, drehte sich im Gehen noch einmal um. Ein anderer Arbeiter saß bereits auf dem Gabelstapler und fuhr die Ladung zu dem Container. Auf einem der Parkplätze vor dem Bürogebäude hatten sie das Auto abgestellt. Es war ein mattgrau lackierter Audi 80. Sie ließen ihn auf der Rückbank platz nehmen;der mit dem Pepitahut setzte sich neben ihn. „Wenn Sie möchten, werden wir Sie nachher wieder zurückbringen.“ Vor dem Eingang zu seiner Wohnung warteten zwei weitere Männer. Diese trugen Uniformen. Daniel wurde aufgefordert, ihnen Einlass zu gewähren. Aus den Augenwinkeln bemerkte er seine Vermieterin, die das Geschehen durch den Türspalt der angrenzenden Wohnung beobachtete. Als sie seinen Blick bemerkte, schloss sie schnell die Tür. Gemeinsam mit Daniel betraten die Vier sein Domizil, ein Zimmer mit angrenzender Küche und Bad. Augenblicklich begannen sie mit ihrer Arbeit, zogen die Schubladen des Schreibtisches auf, entnahmen darin befindliche Unterlagen, öffneten Fotoalben, sicherten ihnen wichtig erscheinende Schriftstücke und Bilder in Klarsichtfolien, die sie in mitgeführten Aktenordnern abhefteten. „Halten Sie sich für weiterführende Befragungen bereit“, bekam Daniel von einem der Nichtuniformierten als Anweisung gesagt. Zurück auf der Arbeit sprach ihn der Vorarbeiter an, dass er sich aus dem Büro einen Scheck mit dem ihm noch zustehenden Lohn abholen könne, und nicht vergessen solle, seine persönlichen Sachen mitzunehmen. Daniel tat wie ihm geheißen, dies, ohne dagegen aufzubegehren, in der Gewissheit, dass dies sinnlos gewesen wäre, nahm seinen Rucksack mit der darin befindlichen Thermoskanne und den am Abend zuvor belegten Broten aus dem Spind, ließ den Schlüssel stecken. Draußen setzte sich der Mann aufs Rad, fuhr als erstes zum Geldinstitut, da er befürchtete, dass ihm das Konto gesperrt würde, und löste den Scheck ein. Danach begab er sich in den Stadtpark, setzte sich dort auf eine Bank. Trotz der milden Frühlingsluft verspürte er ein schauerartiges Frösteln;gleichzeitig stand ihm Schweiß auf der Stirn. Daniel packte die Brotdose und die Thermoskanne aus, hielt Mahl, weniger aus Hunger als aus dem Bedürfnis heraus, sich damit ein Stück weit Sicherheit zu verschaffen. Es ist ihm von Anfang an bewusst gewesen, worauf er sich einließ, als er die maschinegetippten, auf Kopierern vervielfältigten Hefte verteilte, sie in Bibliotheken, Supermärkten und anderen öffentlich zugänglichen Orten hinterlegte. Zuvor hatte er in der Kneipe gesessen und Zettel mit Notizen vollgeschrieben. Ab und an kam einer von den Kneipenbesuchern zu ihm an den Tisch, fragte, was er denn da schreibe. „Nichts besonderes“ war seine Antwort, oder „Tagebuchaufzeichnungen“. Er wollte niemanden mit hineinziehen, zum Mitwisser werden lassen, was er vorhatte. Daniel gehörte keiner Gruppierung an, keiner der so genannten radikalen Zellen, weder den Rechten noch den Linken, die beide nach Revolution schrien und Machtwechsel wollten. Dies war nicht sein Ansinnen. Er wollte keine Abschaffung der Machtverhältnisse erreichen, nur um sie dann durch andere ersetzt zu sehen. Daniel waren verschiedentliche Aussagen aufgefallen, an denen er begonnen hatte Zweifel zu hegen. Es waren Aussagen, die die vier Säulen betrafen, auf denen die Existenz der westlichen Welt, des Abendlandes, aufgebaut worden war: die Religion, die Wissenschaft, die Wirtschaft, und die Politik. Dabei ging es nicht etwa um divergierende Meinungen, sondern um Fundamentalismen, die nach den von Daniel gewonnenen Erkenntnissen nicht der Wirklichkeit entsprachen, ihr nicht entsprechen konnten. Jedoch waren sie so fest verankert im Konsens des Sprach-, Schrift- und Denkgebrauchs, dass sie als unumstößliche Gesetzmäßigkeiten galten. Stellte jemand sie infrage, wurden, unter Zuhilfenahme der vorherrschenden Lehrmeinungen, die Zweifler zurechtgewiesen, so dass sie schließlich angaben, es hatte sich um einen blinden Fleck in ihrer Wahrnehmung gehandelt, da sie dem Mehrheitsdruck nicht länger in der Lage waren standhalten zu können. Mitunter veranlasste sie der drohende Verlust ihrer Arbeit oder des sozialen Ansehens, wieder den Weg der Konformität zu gehen. Hin und wieder wurden Gegenmeinungen zugelassen, dies letztlich mit dem Ziel, die fundamentalen Konstrukte in ihrer Wahrhaftigkeit zu stärken. So besteht dieses System seit Jahrhunderten, unterstützt und getragen durch Autoritäten, die diese Aussagen in Vorträgen ständig wiederholen und sie in Büchern oder Feuilletons veröffentlichen lassen, untermauert mit Formeln, Berechnungen und Prognosen. Und für andere kritische Querdenker wurden Verschwörungstheorien erfunden, um sie abzulenken und in die Irre zu führen. Die dafür zuständigen Denkfabriken arbeiten mit den Geheimdiensten der entsprechenden Regierungen zusammen. Anfangs dachte Daniel, dass er einem Irrtum unterlegen war, Opfer eines Denkfehlers geworden wäre. Wenn er jedoch die Sachverhalte überprüfte, lagen die Falschaussagen vor ihm, offenbarten sich wie Webfehler in einem vorgegebenen, immer wiederkehrenden Muster. Daniel tat Brotdose und Thermoskanne zurück in den Rucksack und fuhr zu seiner Wohnung. Dort wurde er bereits von seiner Vermieterin erwartet, einer kleinen, silberhaarigen Frau von siebzig Jahren, die nach dem Tod ihres Mannes den Entschluss gefasst hatte, einen Teil des Hauses zu vermieten. „Ich kann Sie nicht weiter hier bei mir wohnen lassen“, trat sie Daniel im Hausflur entgegen. In ihrem Gesicht konnte er sowohl Angst als auch Verzweiflung lesen. „Es tut mir leid.“ Der soeben Gekündigte nahm die Entscheidung der Frau entgegen, ohne den Versuch eines Einwandes zu erheben. Auch er war dabei, eine Entscheidung zu treffen. So begab er sich zu John, dem Philosophen. Sie lernten sich bei einer Lesung kennen, die John im hiesigen Buchladen gehalten hatte. Dort hörte er die Geschichte von der Erdgöttin Gaia, die aus dem Chaos entstand, dem weiten, leeren Raum, der erfüllt war mit dem gestaltlosen Äther. In diesem Chaos herrschte Finsternis und ihr Gott Erebos, zusammen mit seiner Schwester, der Göttin Nyx, die Nacht. Erebos und Nyx zeugten Hemera, den Tag, was der Anbeginn der Ordnung des Kosmos war. Für das weltliche Gleichgewicht sollte Uranos, der Gott in Himmelsgestalt sorgen, den Gaia mit Hilfe ihres Bruders Eros im Schlaf hervorbrachte. Gaia zeugte mit Uranos die Titaninnen und Titanen, sechs Töchter und sechs Söhne, unter ihnen Kronos und Rhea. Da Uranos seine ersten Kinder, die Gaia gebar, die Kyklopen und Hekatoncheiren, als Konkurrenten seiner Macht sah, verbannte er sie zu Gaias Bruder Tartaros, dem Wächter des tiefsten Teils der Unterwelt. So zog Gaia die Titaninnen und Titanen im Verborgenen auf, und wies Kronos, ihren jüngsten Sohn, an, Uranos zu entmannen. Als nun Uranos ebenfalls den Weg zu Tartaros antreten musste, verfluchte er Kronos und weissagte ihm, dass es ihm einst mit seinen Kindern genauso ergehen werde. Aus der Verbindung Kronos und Rhea gingen Hestia, Demeter, Hera, Hades und Poseidon hervor. Aus der Befürchtung heraus, dass sich die Weissagung seines Vaters Uranos bewahrheiten würde, verschlang Kronos die Fünf. Um ihren Jüngstgeborenen, dem Rhea den Namen Zeus, gesprochen dze-us, gegeben hatte, vor diesem Schicksal zu bewahren, gab sie an dessen Statt Kronos einen in eine Decke gewickelten Felsbrocken. Kronos entdeckte die Täuschung nicht und verschlang auch diesen. Rhea brachte Zeus zu einer Berghöhle der Insel Kreta, wo er von Nymphen großgezogen wurde. Zeus wuchs rasch heran, und fasste den Entschluss, gegen seinen Vater Kronos vorzugehen. Hierzu suchte er Metis, die Göttin der Klugheit, auf, und fragte diese um Rat. Metis mischte einen Trunk, dem sie Kronos zu trinken gab, worauf dieser die Geschwister des Zeus erbrach. Zeus fesselte seinen von dem Trank berauschten Vater und brachte ihn auf die Insel der Seligen, dem Elysium. Zeus wurde zum mächtigsten der zwölf olympischen Gottheiten gewählt, woraufhin er die Welt in drei Reiche einteilte: den Himmel, den er selbst beherrschte, das Meer, über dem sein Bruder Poseidon regierte, und die Unterwelt, die Hades, dem Erstgeborenen von Kronos und Rhea, zugesprochen wurde. „Laut der Erzählung der Orphiker soll Kronos noch immer in den Elysischen Gefilden weilen, dort, wo das Goldene Zeitalter besteht, die Phase der Menschheit vor dem Beginn der Zivilisation“, schloss John Engelbert Boner seinen Vortrag. Kurz nachdem Daniel den Klingelknopf gedrückt hatte, wurde der Türöffner betätigt. Er betrat das Treppenhaus, stieg die Stufen hinauf. John und seine Frau begrüßten ihn auf das herzlichste und hießen ihn im Wohnraum platz nehmen, boten ihm zu trinken an, was er dankend ablehnte. Während Daniel berichtete, was ihm widerfahren war, hörte John aufmerksam zu. Seine Mimik drückte Besorgtheit aus, hatte er doch ähnliche Erfahrungen gemacht als junger Mann, damals, als er vor dem Krieg und den Schergen der Nazis geflohen war. In einem Sommerhaus bei Freunden konnte er sich verstecken, nahe der Österreichischen Grenze. „Die finsteren Mächte lauern im Verborgenen und sind dabei, neu zu erstarken.“ Daniel stimmte John mit einem Seufzen zu. „Und was gedenken Sie zu tun?“ wurde er von John gefragt. „Ich werde wohl das Land verlassen wollen, weiß aber noch nicht genau, wie.“ „Bleiben Sie doch zum Abendbrot“, lud Frau Boner ihn ein. „Vielleicht wird Ihnen dabei eine Idee kommen.“ Daniel nahm die Einladung dankend an. Johns Frau bereitete einen Salat mit Schafskäse und Oliven, dazu wurde geröstetes Fladenbrot gereicht, und es gab Retsina zu trinken. Während sie aßen, erzählte John, dass er nach dem Ende des Krieges in Österreich blieb und dort 1946 in Linz dem Förster und Naturforscher Victor Schauberger begegnete. Mit seinen Ausführungen über Energiegewinnung aus der Kraft von Wirbeln fand dieser bei dem interessierten Boner offene Ohren. „Nichts klang esoterisch bei ihm“, stellte John klar. „Alles war fundiertes Wissen aus Naturbeobachtungen.“ Seine Forschungen an dem ‚Repulsator‘, der mit einem neuartigen Bewegungsprinzip, der Implosion, funktionieren sollte, weckte die Begehrlichkeiten der Kriegsherren. Unter Aufsicht der Gestapo sollte Schauberger alternative Antriebstechniken für Fluggeräte, die beim Luftkampf eingesetzt würden, entwickeln, dies erst im Konzentrationslager Mauthausen, später im Außenlager Schönbrunn. „Bei einem Probedurchgang erhob sich so ein Ding, krachte durch das Dach des Hangars, und das war`s dann“, zitierte John Victor Schauberger. Aber was es nun gewesen ist, vergaß John damals nachzufragen. Ingeborg und John lernten sich 1951 kennen, 1954 heirateten sie, und zogen 1978 in die Kleine Stadt, fanden dort diese Wohnung, mit einem wunderschönen Blick hinab auf die Wiesen und den Fluß. Nach dem Essen saßen die drei noch beieinander und lauschten den Klängen von Antonin Dvoraks Symphonie ‚Aus der Neuen Welt‘. Da es schon spät geworden war, wurde Daniel die Couch als Schlafplatz angeboten. Ingeborg gab ihm eine Zudecke, dann zog das Ehepaar sich zurück. In der Nacht zeigte ein Traum ihm den Weg zu dem Land, das sein Ziel sein würde. Der erste Weg führte Daniel erneut zu dem Geldinstitut, wo er die restlichen D-Mark von seinem Konto abhob. Daraufhin erstand er im Bahnhof der Kleinen Stadt ein Interrailticket, packte einen Reiserucksack, und passierte einige Stunden später die Niederländische Grenze. Im Zug von Amsterdam nach Paris fiel die Beklemmung, die auf Daniel Mauro gelastet hatte, zu einem großen Teil von dem Reisenden ab. Er atmete tief durch, ließ seine Gedanken schweifen. Der Begriff Heimat hatte für den Mann keine Bedeutung. Auch konnte er sich nicht mit der Geschichte des Landes, in dem er geboren war, identifizieren, ebenso wenig mit der Religion und den Gesetzen. All dies hatte er in seinen Schriften, die er ‚der Anfang‘ nannte, zum Ausdruck gebracht. Durch sie, so war seine Hoffnung, könne er bei Denjenigen, die sie lasen, eine Veränderung der Sichtweise erreichen. Und die wiederum würden ihre neu gewonnenen Erkenntnisse weitertragen, zu Freunden, auf die Arbeit, in die Kneipe, bis sich daheraus eine so große und starke Gemeinschaft bildete, der dieses System nicht mehr standhalten konnte und schließlich einer neuen Gesellschaftsform weichen musste. Wie diese neue Gesellschaft aussehen würde, vermochte Daniel nicht vorauszusehen, und so gab er weder irgendwelche Lehr- oder Glaubenssätze noch eine Anleitung zum Handeln in seinem Anfang mit. Was er jedoch voraussetzte, war kritisches Denken, dies gegenüber Autoritäten, die nur aufgrund von Machtausübung Bestand hatten, respektive über Gesetzesgebung funktionierten. Daniel wollte, dass der Einzelne aus Eigenverantwortung handelte, aus seiner Erkenntnis heraus. Das Einzige, was er mit seinen Bestrebungen nun erreicht hatte, war dieser Entschluss, sich zurückzulassen und einen Neubeginn zu wagen. Immerhin etwas, sagte er sich. In Paris fuhr er mit der Metro vom Gare du Nord zum Gare du Austerlitz, und stieg dort in einen Zug zum Grenzbahnhof Port Bou. Von Amsterdam nach Paris begleitete ihn die Musik der Doors und L.A. woman, the Specials ihr erstes Album, und von the Clash Combat Rock. Von Paris nach Port Bou hörte er Neil Youngs Harvest, das dritte Album vonLed Zeppelin, und Star Wars von John Williams. Die meiste Zeit jedoch hatte er die Kopfhörer des Walkman abgenommen und unterhielt sich mit den anderen Reisenden im Abteil. In Port Bou gab es einen längeren Aufenthalt. Daniel nutzte die Zeit, und besah sich die nähere Umgebung, erinnerte sich daran gelesen zu haben, dass der Schriftsteller Walter Benjamin, auf der Flucht vor den Deutschen Faschisten, hier, aus Angst vor einer Auslieferung und erneuten Internierung, sich mit einer Überdosis Morphiumtabletten das Leben nahm. Auf der Fahrt nach Algeciras lachte und sang er mit einer spanischen Familie, die mit ihm Essen und Rotwein teilte. Als er müde wurde, legte er sich in die Gepäckablage des Abteils, hörte beim Einschlafen das dritte Album von Camper van Beethoven und Pink Floyds obscured by clouds. In Algeciras setzte er mit der Fähre nach Tanger über. Auf dem Schiff kam er mit einem Punkpärchen ins Gespräch, die den Himmel über der Wüste sehen wollten. In Tanger angelandet, nahm sich Daniel ein Zimmer in einem einfachen Hotel, freute sich nach der langen Strecke des durchgehenden Reisens über eine Dusche, und legte sich, nur mit Unterwäsche bekleidet, auf das Bett, schöpfte neue Kraft. Als nächstes begab sich Daniel zu einer Bank, tauschte die D-Mark gegen Dirham, erwarb in einem Geschäft neue Batterien für den Walkman und erkundigte sich nach einer Busverbindung zu dem Ort Chaouen, bekam die Auskunft, dass am Vormittag des nächsten Tages ein Bus dorthin fahren würde. Nach dem Abendessen saß Daniel noch draußen vor dem Hotel und trank Pfefferminztee, als ein Mann an seinen Tisch kam, gekleidet in eine weiße Hose und ein langärmeliges weißes Hemd, sowie einen Torquillahut auf dem Kopf tragend, und lud ihn ein, zu ihm nach hause mitzukommen. „In my house we can smoke without fire“ raunte der Mann mit tonloser Stimme; sein Blick war auf etwas für Andere nicht Sichtbares gerichtet. Als Daniel das Angebot ablehnte, entschwand der Mann, sich dabei um die eigene Achse drehend, als müsse er sich neu orientieren. Schnell brach die Dunkelheit herein. Am darauffolgenden Tag wurde sein Rucksack zusammen mit dem Gepäck der anderen Reisenden auf das Dach des Busses verfrachtet. Während der Fahrt in das gut einhundert Kilometer entfernte Chaouen lag eine Musikkassette mit Gustav Holsts Die Planeten ein. Auf der anderen Seite befand sich der Soundtrack von dem Film Crossroads. Schon bald waren jene zwei Gipfel des Rifgebirges zu sehen, die der Stadt den Namen gaben: „die Hörner“. Am Busbahnhof warteten bereits Taxis. Daniel stieg in eines, auf dessen Rückbank bereits drei vollverschleierte Frauen saßen, und ließ sich zum zentralen Platz des Ortes fahren. Dort fand er ein Hotel mit freien Zimmern und Frühstück, überlegte, gleich zu einer Wanderung in die Berge aufzubrechen, entschied sich stattdessen für einen Spaziergang durch die verwinkelten Gassen mit ihren in unterschiedlichen Blautönen gestrichenen Häusern. Hin und wieder wurde er von Händlern angesprochen, die ihm Kif anboten, entweder als getrocknete Blüten oder in Form von Paste. Daniel signalisierte ihnen, dass er kein Interesse daran hegte. In einem kleinen Restaurant bestellte er sich eine Tajine und dazu ein Glas Fruchtsaft. Gesättigt kehrte er zum Hotel zurück. Als Daniel zu der Bergtour aufbrach, bedeckten lichte Wolken den Himmel. Er schritt den Pfad entlang, der ihn an abschüssigen Hängen und steil aufragenden Felswänden entlangführte. Die Vegetation war karg; mitunter blieb er stehen und betrachtete eine Blume, die sich durch den Sandboden ihren Weg gebahnt hatte. Mittlerweile stand die Sonne an ihrem höchsten Punkt. Daran konnte der Wanderer abschätzen, wie lange er bereits unterwegs war. Er hatte weder Verpflegung noch Wasser dabei, verspürte auch keinen Hunger oder Durst. Aber es kamen Zweifel in ihm auf, ob er hier richtig war. Hatte er sich vielleicht verirrt? Würde er überhaupt finden, wonach er suchte? Daniel ließ seinen Blick schweifen über die scheinbar endlos bis zum Horizont reichende Gebirgslandschaft. Die weiße Sonnenscheibe schien in den Anhäufungen aus Wolkenfeldern zu zerfließen. Unsicherheit und Furcht durchdrangen den Suchenden. Dass er wieder in sein Herkunftsland zurückkehren würde, ohne dass sich dort etwas verändert hätte. Er vernahm den Ruf eines Muezzin; der vermochte es, ihm etwas Zuversicht zu spenden. Gleich darauf bemerkte Daniel eine in einen gestreiften Kapuzenmantel gewandete Gestalt, die auf dem Pfad entlangging. Er freute sich, einen weiteren Suchenden zu erblicken. Dieser schritt langsam dahin, bedächtig seine mit Sandalen bekleideten Füße aufsetzend. Schon hatte Daniel ihn eingeholt, grüßte, woraufhin der andere Wanderer sich umwandte. „Da bist Du ja. Hattest Du eine gute Reise?“ Der Gefragte bejahte dies. Der Mann sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. Sein Vollbart schien verwoben mit dem Stoff der Kapuze, die Gesichtshaut war von der Sonne gegerbt. „Ich bin Hassan i Sabah.“ Dies wollte Daniel nicht recht glauben, fragte, ob er tatsächlich dem sagenhaften Alten vom Berge begegnet sei. Darüber zeigte der Mann sich amüsiert, wiederfragte, ob Daniel etwa den Legenden über die haschischrauchenden Assassinen Glauben geschenkt habe. „Dies bekamen die damaligen Kreuzfahrer durch die strenggläubigen Muslimen erzählt, um sie gegen uns einzuvernehmen.“ „Weshalb taten sie das?“ Der Alte ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder. „Sie hassten uns. Für sie waren wir Abtrünnige. Unser Glauben wich von den Predigten ihrer Schriftgelehrten ab. Jedoch hat es uns schon in den Anfangszeiten gegeben. Einige waren Weggefährten Mohammeds…“ Als der Muezzin sein Gebet beendete, glich die wiedereinkehrende Stille einem Vakuum. „Worin besteht euer Glaube?“ „Wir bezeichnen es als das ‚wahdat al-wudschùt‘, wohl am ehesten zu übersetzen als ‚Die Einheit des Seins‘. Wir glauben nicht an Gott als ein übergeordnetes Wesen, sondern an Gott als eine verborgene Kraft, zu der wir durch Meditation in Verbindung treten können, und die durch uns sich materialisiert. Einer unserer Scheichs wagte einmal bei der Befragung durch einen schiitischen Rat zu sagen „ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit, ich bin die Erkenntnis.“ Daraufhin wurde ihm der Kopf abgeschlagen.“ „Warum bin ich hier?“ wollte Daniel von Hassan i Sabah nun wissen. „Ein weiterer unserer Lehrsätze ist, dass die Wahrheit in allen Glaubensrichtungen zu finden ist. Der Ursprung von Religion ist der Wunsch des Menschen, sich zu erklären, woher er kommt, und was um ihn herum geschieht…“ Ein Tier umschwirrte den auf dem über einem darunterliegenden Tal ragenden Felsen sitzenden Mann. Ob es ein Vogel oder ein Insekt war, konnte Daniel nicht erkennen, aber er meinte zu sehen, dass sich Hassan mit dem Geschöpf unterhielt, sich ihm zuwandte, lachte und gestikulierte. Als das Tier weggeflogen war, setzte er seine Ausführungen fort. „Wenn Menschen ihre Verbindung zur Natur verlieren, verlieren sie auch die Verbindung zu Gott. Ihr Geist und ihr Handeln wird vom Materiellen beherrscht. Diese Menschen sind unfähig zu lieben. Sie benutzen andere Menschen, um ihre geschlechtlichen Triebe zu befriedigen, wollen sie besitzen, so wie sie Land und Güter besitzen wollen. Aus Angst, dass andere Menschen ihnen dies wegnehmen wollen, mauern sie sich ein. Fremde betrachten sie als Feinde, die ihr zivilisiertes, sesshaft gewordenes Leben zerstören wollen. Jedoch zerfällt diese selbsternannte Zivilisation von innen heraus, aus ebendiesen Gründen.“ Dunkelheit umgab Daniel. Er sah hinauf zum Firmament und meinte, die Plejaden zu erkennen. Als er wieder zu dem Felsen schaute, war der Mann nicht mehr da. Über das von Hassan i Sabah Gesagte empfandDaniel eine Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Als Daniel am darauffolgenden Tag nach Tanger fuhr, um sich dort nach einer Bleibe umzusehen, sah er vor einem Hotel das Punkpärchen von der Fähre sitzen. Mit verklärtem Lächeln gingen ihre Blicke ins Leere. Sie hatten ihren Himmel gefunden.
