Watchman

Der letzte Traum, an den Rafael Kellner sich erinnern konnte, hat ihn dazu veranlasst, eine Bibliothek aufzusuchen. Dieses Mal ist es kein australischer Ureinwohner gewesen, der zu ihm gesprochen hat. Rafael hat sich in einem weißgekalkten Raum gesehen, in dessen Mitte etwas stand, von dem er lediglich die Umrisse erkennen konnte, sowie das Blinken zweier Lichter. Er solle sich auf die Suche begeben nach Gleichgesinnten, vernahm Rafael die Stimme eines Mannes. Und diese Gleichgesinnten zu finden sei nur möglich über die Auflösung des Gottesmythos. Sein Verhältnis zu Religion konnte er bis dato in einem Satz zusammenfassen: „ich glaube nicht an Gott.“ Jedoch ist ihm schnell klar geworden, dass ihn diese Einstellung bei der Auflösung des Rätsels, oder besser bei der Lösung der Aufgabe, die ihm in dem Traum gestellt worden war, nicht weiterhelfen würde. Auch würde es Gott letztlich scheißegal sein, ob der Mensch Rafael Kellner nun daran glaubte oder nicht. Es war die Bezeichnung ‚Mythos‘, die ihn dazu bewogen hat, in die Bibliothek zu gehen. Mythologien haben ihn schon als Junge fasziniert. In den Marvel Comics ist Thor einer seiner Lieblingshelden gewesen. Und die Fantastischen Vier. Superhelden, die die Menschheit vor Bedrohungen in Gestalt von Superschurken beschützen, die die Macht über die Welt zu erlangen versuchen. Und nun sitzt Rafael bereits seit drei Stunden dort und wälzt Bücher. Begonnen hat er bei der Griechischen Mythologie, da er dachte, Thor gehöre zu den Griechischen Gottheiten, landet dadurch bei den germanischen Stämmen, ist überrascht, dass doch einiges von deren Riten im christlichen Glauben wiederzufinden ist, widmet sich daraufhin der Literatur über weitere alte Religionen, Sagen, Mythen. Besonders gefällt Rafael eine Sage von einem afrikanischen Volk, welches rund um das Kilimandscharomassiv angesiedelt ist. Bei ihnen kommen die ersten Menschen an dem Faden einer Spinne herab, die als Urahn verehrt wird. Jedoch können diese Menschen nicht mehr zurückkehren, weil mittlerweile ein Vogel den Faden mit seinem Schnabel zerrissen hat. Er liest von dem Volk der westafrikanischen Dogon, die ihre Häuser nach einem überlieferten Prinzip errichten, um damit die Ordnung der Welt aufrecht zu erhalten. Um die Ordnung der Welt beziehungsweise die des Kosmos geht es auch bei den australischen Ureinwohnern, die mittels Träumen sowohl mit ihren Urahnen als auch mit der sie umgebenden Welt in Verbindung treten. Rafael erfährt, dass dieses Träumen nichts mit den Gehirnaktivitäten im Schlaf zu tun hat. (Aber weshalb ist mir dann der Aborigine im Traum begegnet, fragt er sich) Es ist, so wird versucht zu erklären, der Anfang von Allem, die Geschichte der Menschheit, die an nachfolgende Generationen weitergegeben und von ihnen weitergeführt wird. Dieser Geschichte zufolge waren die Urahnen Wesen halb Mensch, halb Tier, die aus der Erde kamen, und mit ihnen das Licht. Sie wanderten über das Land und erschufen die Berge, Täler und die Flüsse, die Tiere und Pflanzen, und schließlich die Menschen. Von diesen Taten erschöpft kehrten die Ahnen in die Erde zurück, um zu schlafen. Ihre Geister sind zu finden in Bäumen, Bergen, Höhlen und in Teilen der Landschaft, durch die Menschen mit ihnen in Kontakt treten können, um die Welt und ihre Zusammenhänge zu verstehen und zu nutzen. Fasziniert ist Rafael von der Information, dass diese Vorstellungen und Überlieferungen an die 50.000 Jahre alt sind, und damit zu den ältesten bekannten Glauben gehören. Ein Ziehen im Rücken und die Andeutung von so etwas wie Hunger rufen ihn in die Gegenwart zurück. Zudem verspürt Rafael Durst. Drei Signale, die ihm bedeuten, für heute die Suche nach einer Antwort zu beenden. Viel ist ja nicht dabei rausgekommen, befindet er, und überhaupt: was hatte der Mann mit Gleichgesinnten gemeint? In seinem bisherigen Leben ist es ihm nicht in den Sinn gekommen, einer Partei oder einem Verein beizutreten, um sich dadurch in seinen Ansichten und seiner Lebensführung bestätigen zu lassen. Naja. Andererseits hat er bisher auch noch keine Stimme im Traum vernommen, die ihm irgendwelche Anweisungen für sein Handeln gegeben hat. Und die er dann auch noch befolgt. „Einmal Curry und Pommes rot-weiß.“ „Curry normal, scharf oder extra?“ „Ja, normal scharf, nä?“ „Und noch was zu trinken dazu?“ „Nö, hab selber was dabei.“ „Eijenvazehr is hier aba nich erlaubt.“ „Bier gibts bei Ihnen ja nicht.“ „Wir ham Cola und Sinalco im Angebot.“ „Sowas trinke ich nicht. Hab mir extra n schönes Bier ausm Supermarkt geholt.“ „Wenn de mir ne Mark jibst, jeb ick Dir n Glas dafür.“ „Einverstanden.“ „Denn macht det fünf Mark fuffzich.“ Rafael sucht das passende Geld zusammen, legt es auf den Tresen, bekommt schon mal ein Glas gereicht. „Der Rest wird gleich nachjeliefert.“ Rafael nimmt an einem der Tische platz und holt eine Halbliterflasche aus dem Rucksack, entkorkt sie mit dem Feuerzeug, trinkt. Immer spielen Berge eine Rolle, sinniert er. Der Ayers Rock, der Kilimandscharo, der Devils Tower. Wobei letzter keine Bedeutung bei den amerikanischen Ureinwohnern gehabt hat. Oder? Er seufzt, trinkt, stellt die Flasche neben dem Rucksack auf den Boden. „So, eenmal Curry mit Pommes rot-weiß.“ Rafael holt sich die beiden Pappschälchen ab, fängt an zu essen. „Und, schmeckts?“ wird vom Grillbetreiber gefragt, was mit einem Nicken bejaht wird. „Na, det freut den Sohn der Mutter aba.“ Ein weiterer Kunde ist an den Imbisswagen herangetreten, bestellt ein halbes Hähnchen zum Mitnehmen und eine Cola zum Hiertrinken, setzt sich mit der Flasche an einen Nachbartisch. „Einen guten Appetit wünsche ich.“ Rafael nickt auch ihm zu, sieht an der Halskette ein Jesuskreuz hängen, was seine durch den im momentan sich befindenden Kontext sensibilisierte Neugierde weckt und ihn fragen lässt „sind Sie religiös?“ Der Mann nickt bedächtig, antwortet „ich habe Anfang des Jahres eine Gotteserfahrung gehabt.“ Nun hat er Rafaels volle Aufmerksamkeit. Er erzählt Rafael von seiner schweren Krankheit, und dass an der Schwelle zum Tod Gott in der Gestalt von Jesus dem Erlöser an sein Bett getreten ist, ihm sein Leben zurückgab und ihn gesunden ließ. „Glauben auch Sie an Gott?“ Rafael verneint, berichtet nun seinerseits von den Träumen und den Botschaften, die darin an ihn gerichtet worden waren. „Und was genau hat der Aborigine zu Ihnen gesagt?“ „Er sprach davon, dass wir Menschen die Uhren anhalten sollen, weil sonst alles Leben auf dem Planeten sterben würde.“ „Hat der Ureinwohner dabei von einer großen Kraft gesprochen?“ Mit einem Mal fühlt sich Rafael in den Traum zurückversetzt, „Ja. Ja, das hat er! Wissen Sie, was damit gemeint ist?“ Der Mann schaut auf die um sein rechtes Handgelenk gebundene Armbanduhr. „Oh, es ist schon spät! Ich muss los“, ruft er aus, trinkt die Flasche leer und will augenblicklich gehen. „He, juter Mann! Vajessen Se Ihren Broiler nich!“ Er greift sich die Tüte mit dem Grillgut und strebt ohne ein Wort des Abschieds dem Parkplatz zu, steigt in ein dort abgestelltes Auto und fährt davon. „Wat war denn ditte für Eina?“ Auch Rafael findet diese Begebenheit etwas sonderbar, isst und trinkt zuende, stellt das unbenutzte Glas zurück, wirft Schälchen und Plastikbesteck in den Abfalleimer. „Und nich det Bier vajessen!“ „Nee, gibt es ja Pfand drauf.“ Die beiden Männer wünschen sich einen schönen Tag, und Rafael macht sich auf den Heimweg.