Sequenz zwei

‚Guten Morgen, Armin! Bin bis 13:30 in der Biblio. Vielleicht schau ich danach bei euch im Kiosk vorbei. Unanständige Küsse, Julia’. Neben dem Namen ist ein gehörnter Smiley hingekrakelt.
Schmunzelnd nimmt der Adressat dieser Zeilen einen Schluck Milchkaffee, bestreicht Toast mit Margarine, wählt Kalbsleberwurst als Belag, sieht Julia vor sich, wie sie ihre Nase rümpft und ‚igitt, totes Tier‘ oder Ähnliches kommentiert.
Letztes Jahr im Oktober ist er ihr auf einem Konzert von Pohlmann im Schlachthof begegnet, war sofort verschossen in das mit Ramones-Lederjacke, black Jeans und Doc Martens gewandete Mädchen. Wegen der Zugaben verpasste er seinen Zug, und so setzten sie sich mit einer im Spar-Markt erstandenen Rosèweinflasche auf die Steintreppen vor den Hauptbahnhof zu dem anderen Nachtvolk und erzählten sich ihr bisheriges Leben.
Julia war gerade achtzehn geworden, hatte ihr Abi gemacht und mit dem Soziologiestudium angefangen. Die fünf Jahre Altersunterschied machte die junge Frau mit ihrer selbstbewussten Art wett, und bevor am frühen Morgen die erste Regionalbahn einfuhr, tauschten sie ihre Handynummern aus. Mit einem Küsschen auf die Wange verabschiedete sie sich von ihm; Armin schaute ihr hinterher und sah sie mit einer der Straßenbahnen davonfahren.
Zwei Wochen später räumte sie ihr Zimmer bei den Pflegeeltern und zog mit ihren wenigen Habseligkeiten bei Armin ein.
Seitdem findet Armin in schöner Regelmäßigkeit Julias Zettel, (analoger Message Service, wie sie es nannte und damit ihre Abneigung gegenüber digitalen Diensten dieser Art zum Ausdruck brachte) freut sich darüber und fügt gerne mal Antworten hinzu.
Armin schlägt die abonnierte Tageszeitung auf, überfliegt die Artikel, liest, dass in Kassel von Unbekannten der Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) mit Farbe beschmiert wurde, was dem jungen Mann ein “scheiß Faschogesocks“ entfahren lässt. Er blättert weiter, liest noch zwei, drei für ihn interessant erscheinende Artikel, trinkt den Kaffee aus, und dann wird es Zeit für den Aufbruch.
Am Anfang der Fußgängerzone steigt Armin vom Rad, schiebt sich durch die Marktbesucher, und stellt kurz darauf das Rad auf dem kopfsteingepflasterten Bereich neben der Einfahrt zur Tiefgarage ab, sichert das Gefährt mit einem Kettenschloss und betritt den Kiosk.
„Hola, Enrico!“ Hinter dem PC-Monitor taucht das Gesicht seines Geschäftspartners auf, der den Gruß mit einem erhobenen Daumen erwidert.
„Alter, Du siehst aber reichlich fertig aus“, konstatiert Armin, seine Jacke ausziehend. „Gestern auf Party gewesen?“ „Filmabend bei Marvin.“ „Und was gab es Schönes?“ „Zuerst haben wir ‚Pig Hunt‘ geguckt, und danach…“ „Ich dachte bei meiner Frage eher an die Drogen, die verabreicht wurden.“ „Ach so.“ Enrico ist sich nicht sicher, ob Armin es spaßig meint oder ob er über ihn genervt ist, mag aber auch nicht nachfragen.
Armin kommt aus dem Aufenthaltsraum zurück, nimmt neben Enrico am Verkaufstresen auf einem Barhocker Platz. „Ist das die Homepage?“ Enrico nickt, klickt sich durch.
„Hat er gut hingekriegt, Dein Bekannter.“ Enrico nickt wieder, verkündet, dass bereits 372 Leute die Seite besucht hätten. „Ja, super! Und wieviel Kunden hattest Du heute hier im Kiosk?“ „Nicht ganz so viele.“ Armin öffnet die Kasse, überschlägt das eingenommene Geld. „Na ja, nich so dolle. Aber dafür, dass wir erst seit einem halben Jahr am Start sind…“
„Vielleicht müssen wir da mehr Werbung machen.“ Armin gibt Enrico recht. „Julia hatte da gestern so ne Idee…“ „Erzähl.“ „Sie meinte, wir hätten doch noch keine Eröffnungsparty gemacht, und das wär doch was, im Frühling. Mit Livemusik und Fassbier…“
„Mhm“, kommt von Enrico, nicht sonderlich begeistert aussehend. Armin mustert seinen Geschäftspartner, will es nun wissen. „Alter, raus mit der Sprache, was ist los mit Dir?“ Enrico druckst eine Weile herum, dann öffnet er sich. „Ach mensch, seit einem halben Jahr stehe ich nur in dem Laden rum – ich mein, auf jeden Fall besser als diese Maßnahmen – aber zur Zeit hänge ich einfach nur durch. Sorry.“ „Brauchst mal ne Auszeit, n paar Tage Urlaub?“ „Wie soll das gehen? Wir sind ja nur zu zweit!“ „Geht nicht gibs hier nicht“, antwortet Armin, „ich stell für die Zeit, sagen wir ne Woche?, eine Aushilfe ein.“ „Eine Aushilfe? Wo willst Du die denn hernehmen? Und außerdem…“ „Enrico! Mach Dir keine Gedanken, das kriege ich schon geregelt. Ich mach gleich nen Zettel an die Tür, und Julia kann am Montag in der Uni rumfragen. Gut?“ „Ja, okay, gut.“
Die Tür geht auf und ein Junge, vielleicht vier, fünf Jahre, stürmt auf das Regal mit den Süßigkeiten zu. Begleitet wird er von einem hoodietragenden Typen, der sich zu den Zweien hinter dem Verkaufstresen Sitzenden begibt. „Grüß euch. Na, wie schauts?“ „Hi, Sven. Muss ja, nech?“ Enrico hat seinen Platz verlassen, die beiden tackern ihre Fäuste gegeneinander, von Armin kommt eine winkende Hand.
„Mensch, sei bloß froh, dass Du aus dieser Maßnahme raus bist!“ Enrico nickt. „Bin ich auch! War ja nicht zum aushalten, immer das gleiche Gelöhre: ‚geben Sie sich Mühe, bewerben Sie sich‘… aber nen Job mit anständiger Bezahlung haben se dann nicht anzubieten…“ „Weißt bescheid! Naja, jetzt ist erstmal Wochenende und ich hab den Jannis bei mir.“ „Bleibt er über Nacht?“ „Nee, will Andrea nicht, wegen – Du weißt schon…“ Enrico nickt. „Heut Nachmittag irgendwann bring ich ihn zurück.“
Derweil hat Jannis eine Sammlung von 5 und 10Cent-Süßigkeiten in eine Papiertüte gesteckt, legt einen Euro auf den Tresen, fragt „krieg ich was wieder?“ „Was haste denn?“, wird er von Armin gefragt, und Jannis zählt auf: „Zehn von den Fröschen und…fünf Fledermäuse.“ „Das kommt dann genau hin.“
Jannis grapscht sich die Tüte, verfrachtet sie in seine Jackentasche. „Wir waren eben auf dem Spielplatz“, verkündet er daraufhin. „Da hat Sven sich mit einer Frau unterhalten, die kam von… wo kam die her, Papa?“ „Aus der Ukraine.“ „Ja. Die war mit zwei Kindern da. Das waren aber nicht ihre…“
„Sie gehört zu einer Studentengruppe, deren Visum abgelaufen ist, und die nun zurück müssen – bis auf sie und noch eine andere, die eine Stelle als au pair gefunden hat.“
„Papa, was ist ein oh per?“ „Naja, ein au pair passt auf die Kinder anderer Leute auf, während die zur Arbeit gehen.“ „Ach so.“ Jannis steht da und überlegt.
„Ziemlich vertrackte Situation da“, greift Armin das Thema auf. „In der Zeitung habe ich gelesen, dass dort faschistische Organisationen Freiwillige für die Rückeroberung der Krim rekrutieren wollen.“ Sven zuckt mit den Schultern. „Weißt Du, was davon wahr ist?“
„Papa, dann bist Du auch ein oh per!“ „Was?“ „Na, Du passt auf mich auf, während Mama arbeitet!“ „Dein Sohn weiß bescheid“, bemerkt Enrico schmunzelnd. „Gehst Du schon in die Schule?“ „Nö. Noch geh ich in´n Kindergarten. Aber da ist es Scheisse!“ „Oi, sach mal, wer sagt denn solche Worte?“ „Opa, manchmal, wenn er Nachrichten guckt.“ „Bevor ichs vergesse: ich nehm ne Packung American Spirit und Canuma-Blättchen.“ Armin sucht das Gewünschte zusammen, tippt den Betrag in die Kasse ein, nimmt den Zehner entgegen und gibt Sven sein Wechselgeld raus.
„Papa, was machen wir gleich noch?“ „Weiß nicht, wie spät haben wirs denn jetzt?“ „Gleich halb zwei“, sagt Armin die Zeit an. „Oi, und noch nichts gegessen! Wie siehts aus, Jannis? Zu McDoof und nen Burger mit Pommes?“ „Au ja, geil!“ „Das hat er aber jetzt nicht vom Opa“, konstatiert Armin. „Nee, das hat er von mir – also Jungs, schickes Wochenende, bis nächstes Mal!“
Jannis und Sven gehen über den Vorplatz hin zu einem kleinen Parkplatz. „Ich darf heut nacht bei Opa schlafen“, verkündet Jannis stolz. „Und Andrea?“ „Die schläft woanders.“ „Echt? Wo denn?“ „Das weiß ich nicht. Ich glaub, bei ner Freundin.“ „Ah, oke.“ Sven schließt den Wagen auf, lässt seinen Sohn einsteigen, hilft ihm beim anschnallen, und kurz darauf reiht sich Sven in den samstagnachmittäglichen Kleinstadtverkehr ein.

Kurz nachdem Sven und Jannis den Spielplatz verlassen haben, ist auch die junge Frau mit den beiden Kindern aufgebrochen. Zuhause angekommen, werden sie von der Frau des Hauses empfangen, die ihnen mitteilt, dass am Abend warm gegessen würde, da ihr Ehemann noch geschäftlich zu tun habe.
„Wenn ihr Hunger habt, macht euch ein Brot oder nehmt euch Joghurt aus dem Kühlschrank.“ Als alle versorgt sind und die Kleinen sich auf ihren Zimmern beschäftigen, sitzen die beiden Frauen bei einem Capuccino zusammen im Wohnzimmer.
„Ich habe eben mit meinen Eltern telefonieren können. Es geht ihnen so weit gut, aber mein Vater hat zur Zeit keine Arbeit. Ich habe mir überlegt, dass ich ihnen gerne Geld zuschicken möchte…“ „Ich denke, dass ist kein Problem, Marjana. Sag, wieviel Du brauchst, und wir helfen Dir gerne aus…“ „Neinnein, so habe ich das nicht gemeint! Ihr helft mir schon genug damit, dass ich hier bei euch wohnen kann. Ich habe mir vorgestellt, eine Nebenarbeit zu suchen, wenn es sich mit meinen Aufgaben hier vereinbaren lässt…“
Die Frau nickt und sichert Marjana zu, dass sie sich darum keine Sorgen zu machen bräuchte. Sie sei ausschließlich für die Betreuung der Kinder da, um alles andere würde sich ja Ilkia kümmern.
Besagte Ilkia kommt einmal die Woche ins Haus, reinigt das Bad, die Küche und den Wohnbereich, bügelt die Wäsche, besonders die Oberhemden des Hausherrn, damit dieser im tadellosen Outfit seinen Geschäften nachgehen kann. Lediglich seine Anzüge aus italienischem Zwirn lässt dieser in die Reinigung geben.
Ilkia kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien, hat vor fünfzehn Jahren die Koffer gepackt, als die dort von den westlichen Medien als Bürgerkrieg bezeichneten Kämpfe zu eskalieren drohten, jahrelang niedergehaltener Hass der unterschiedlichen Ethnien neu aufflammte, vielleicht auch geschürt wurde, und in den Kosovokrieg gipfelte, in den die NATO zu intervenieren sich berufen fühlte, als im deutschen Fernsehen die damaligen Außen- und Verteidigungsminister von in Serbien errichteten KZ und von in ‚äußerster Brutalität vorgenommenen Verletzung von Menschen- und Lebensrechten’ sprachen. Demnach wurden ‚schwangeren Frauen nach ihrer Ermordung die Bäuche aufgeschlitzt und die Föten gegrillt‘.
Das wird in etwa die Zeit gewesen sein, in der unser Familienmensch, damals noch unverheiratet, nach Belgrad reiste, um sich in einem Hotel mit UĈK-Vertretern, US-amerikanischen und Schweizer Außendienstmitarbeitern an der Bar verabredete, um bei einem oder zwei Glas Pivo über die Möglichkeiten friedensunterstützender Maßnahmen zu verhandeln. Es kann gut sein, dass der Mann sich daraufhin seinen ersten maßgeschneiderten Anzug anfertigen lassen konnte.
Vielleicht ist darin seine Hilfsbereitschaft für Menschen aus dieser Region begründet, als kleine Wiedergutmachung gewissermaßen. Bei den großen lässt er sich aber auch nicht lumpen – da wird schon mal der eine oder andere Scheck für die bekannten mildtätigen Organisationen ausgestellt, sozusagen als eine Art Ablassbrief, wenn auch dieser Begriff heutzutage nicht mehr fällt.
Als der Vater eintrifft, wird er von seinen bereits gebadeten und für die Schlafenszeit eingekleideten Sprösslingen empfangen. Am Esstisch sitzend lässt er sich alle bei den Händen fassen und „piep piep piep, wir haben uns alle lieb – guten Appetit!“ Es gibt Reispfanne mit Fisch und frischem Gemüse, „ganz was Einfaches“, wie die Köchin betont, und als Nachtisch Götterspeise mit Vanillesoße.
„So, und jetzt ab in die Kojen! Vielleicht liest euch Marjana noch eine Gute-Nacht-Geschichte vor.“ „Aber vorher werden noch die Zähne geputzt“, mahnt diese an, und schon sausen die beiden Schlafanzüge (der von der Tochter ist mit einer Figur aus den ‚Minions‘ bedruckt, auf der Brust ihres Bruders prangt Darth Vader mit einem Lichtschwert) Richtung Bad.
Später sitzt Marjana mit dem Ehepaar noch im Wohnzimmer beisammen. In den laufenden Nachrichten werden Bilder vom Maidanplatz gezeigt, dann Gefechte am Flughafen von Donezk.
„Meine Eltern sagen, dass fast alle Bewohner der Krim für eine Angliederung an Russland gestimmt haben.“ „Die Wahlen werden gefälscht worden sein.“ „Viele Leute glauben, was Putin sagt. Er sagt, der Westen hält nicht, was er verspricht. In Wirklichkeit werden mit den Krediten nur die Reichen und Mächtigen unterstützt.“ „Das sind doch die, mit denen Putin sich umgibt“, weiß der Mann zu berichten. Das Mädchen nickt. „Einer von ihnen ist Nationalist und Milliardär. Sein Geld macht er mit dem Handel von Waffen…“ Der Mann wechselt das Thema und möchte nun wissen, was es denn noch in der Glotze gibt. Daraufhin zieht sich Marjana in das Gästezimmer zurück und telefoniert noch mit ihrer Studienkollegin, die ebenfalls hier geblieben ist bei einer Gastfamilie. Etwas später löscht sie das Licht, findet jedoch lange keinen Schlaf.

„Och, ist der schön!“ Georgina steht neben dem Wagen und berührt die Nut- und Federbretter der Seitenwand, klopft gegen den linken Vorderreifen, rüttelt vorsichtig an einem Aufrichter von der Veranda. „Woher hast Du das Teil?“ wird von Alexander gefragt. „Aus dem Internet. Auf einer Homepage bieten Leute aus der gesamten Republik Fahrzeuge dieser Art an. Der hier kommt aus dem Teufelsmoor. Und Mikesch hat ihn für mich hierher gefahren. Kommt rein, kommt rein,“ fordert er seine Gäste auf.
Das erste, worauf der Blick von Georgina im Inneren des Wagens fällt, ist eine Grafik, die neben dem Bücherregal angebracht ist. Sie zeigt die Zeichnung eines von der Seite abgebildeten bärtigen Mannes, dessen Oberkörper übergeht in ein ausgebreitetes Vogelgefieder.
„Was ist das?“ „Es ist ein Holzschnitt Faravahars, das Symbol der Zoroastrier für den menschlichen Geist und ihre drei Grundprinzipien.“ Und gleichzeitig mit Khalil sagt Georgina diese auf: „Denke Gutes, spreche Gutes, tue Gutes! Ja, ich erinnere mich. Diego hat uns damals damit vertraut gemacht…“
„Was sind Zoroastrier? fragt Alexander nach und Khalil erklärt „der Zoroastrismus ist eine frühe monotheistische Glaubensrichtung, die zwischen 1800 und 600 vor unserer Zeitrechnung in… ich glaube Persien?…“, dabei schaut er hilfesuchend zu Georgina, doch die zuckt lediglich ihre Schultern, „…ihren Ursprung hat. Ihr Religionsstifter war Zarathustra. Ihr Schöpfergott heißt Ahura Mazda, der von mehreren anderen Gottheiten unterstützt wird im ewigen Kampf gegen Ahriman, der das Böse darstellt. Die Beiden, Ahura Mazda und Ahriman, werden als Zwillinge dargestellt…“
Alexander betrachtet eingehend das Bild, murmelt „interessant, interessant.“ „Die Anzahl der Anhänger wird heute auf etwa 130.000 geschätzt. Einer ihrer Bekanntesten ist…“ Khalil muss kurz überlegen, „Farrokh Bulsara.“ „Wer?“ „Besser bekannt als Freddy Mercury.“ „Er war bestimmt einer von uns“, lässt da Georgina verlauten.
„Wollt ihr was trinken, habt ihr Hunger?“ fragt Khalil nach, was von den Beiden verneint wird. „Gut. Dann versuche ich mal, Morgen-ist-eh-alles-zu-spät zu erreichen.“ Mit diesen Worten greift Khalil nach dem auf dem Tisch liegenden Handy und lässt es eine Nummer aus dem Adressbuch wählen. „Ja hallo, hier spricht Khalil. Ruf mich doch bitte zurück, es ist wichtig. Danke.“
„Was genau nun haben dieser Morgen-ist-eh-alles-vorbei und der Treckerfahrer mit dem Moment der Stille zu tun?“ greift Georgina ihre schon vorhin gestellte Frage etwas präziser gestellt auf. Die zwei Männer sortieren ihre Gedanken; es ist Alexander, der antwortet. „Als ich D.B. aufsuchte, als ihr in dem Haus gefangen gehalten wurdet, forderte er mich auf, etwas zu unternehmen, konkret, den Moment der Stille herbeizuführen…“
„Du sagtest vorhin, dass Du garnicht weißt, wie D.B. aussieht?“ hakt Khalil nach. „Nein. Er befand sich doch in diesem…diesem…“ „Samadhi-Tank“, hilft Khalil weiter. „Ja, genau. Ich konnte mit ihm über ein Headset sprechen…“ Alexander schüttelt den Kopf. „Das war schon ein merkwürdiges Zusammentreffen.“
„Und was hast Du dann gemacht?“ will Georgina weiter wissen. „Naja, ich hab mir Leute gesucht, die verschiedene Aktionen durchführen sollten…“ „…Wie diese Radiosendung“, weiß Georgina sich zu erinnern. „Und all diese Menschen sind sozusagen eingeweiht worden, über uns und das ganze…“ „Es ist schon so gewesen, dass sie bescheid wussten“, meldet sich Khalil zu Wort. „Bescheid? Wie: bescheid?“ Georgina merkt gerade, dass sie von Vorgängen erfährt, über die sie bislang keine Kenntnis gehabt hat.
„Ich hatte damals…“ Khalil reibt sich unsicher sein Ohr, „…unsere Geschichte aufgeschrieben, hauptsächlich die Träume, und die Treffen im Keller, das Ganze kopiert und unter die Leute gebracht.“
„Aber Diego hatte uns doch zu absolutem Stillschweigen verdonnert“, ruft Georgina aus, worauf Khalil ihr entgegnet, dass dies erst zu einem späteren Zeitpunkt gewesen sein muss.
„Die meisten werden es eh für eine erfundene Geschichte halten“, gibt Alexander beschwichtigend hinzu. „Für Fantasy, bestenfalls für einen Mythos.“ Von Georgina ist ein Seufzen zu vernehmen, dann „ich muss mal pipi.“ „In dem Bauwagen nebenan findest Du die Toilette. Wasser zum Nachspülen ist in dem Eimer.“ Georgina stiefelt los, um ihr Geschäft zu erledigen.
„Ganz schön angefressen, das Ponee“, merkt Alexander an. „Ich war der Meinung, sie wüsste bescheid über die Aktionen…“ „Ach was. Und wenn, nur am Rande. Sie und George waren doch voll und ganz damit beschäftigt, die Traumwelt zu bereisen.“ „Wo wir wieder bei der Frage sind, wie wir herausfinden können, wo George, Susha und D.B. sich herumtreiben.“ „Ich warte auf den Rückruf von Morgen-ist-eh, alles weitere wird sich finden. Kommt jetzt ja auch nicht auf den Tag an.“ „Naja, es klang schon so, als würde es pressieren…“ Khalil macht eine beschwichtigende Handbewegung, lenkt die Gedanken zu einem anderen Thema. „Fahr mich doch bitte nachher in die Stadt – ich hab dort mein Rad stehen.“ Alexander nickt, schlägt vor, dass sie auch gerne noch bei ihm Station machen könnten, was jedoch von Khalil abgelehnt werden muss. „Vorhin bin ich zu einer Party eingeladen worden, auf der ich Musik machen soll.“
Darüber zeigt sich Alexander begeistert, fragt, wann es dort losgehen soll. „Um acht. Ich denke, es schadet nicht, wenn ich dort etwas früher aufkreuze…“ „Na, bis dahin ist ja noch ne Menge Zeit. Können ja beratschlagen, wie wir die noch nutzen wollen.“
In diesem Moment kommt Georgina zurück, schließt die Tür sorgfältig hinter sich, als würde sie verhindern wollen, dass etwas Unangenehmes hinter ihr herkommt.
„Eben auf dem Rückweg kam mir ein Typ entgegen. Er schleizte so witternd an mich heran, als hätte er eine willige Beute entdeckt, raunte etwas, dass ich nur erahnen konnte und verschwand dann im Toilettenwagen…“ „AlDee!“ entfährt es da Khalil. „Ja, ein unangenehmer Zeitgenosse!“ Und wie zur Bestätigung schüttelt sich Georgina, als wolle sie damit etwas an ihr Haftendes abwerfen. „Morgen-ist-eh-alles-zu-spät hat ihn vor ein paar Wochen hier angeschleppt, weil er auf der Suche gewesen ist nach einer vorübergehenden Bleibe, und Johann, naiv und großzügig, hat ihm den vorne stehenden Wohnwagen angeboten, der eigentlich als Unterkunft für Fahrradtouristen geplant gewesen ist.“
„Kennt dieser Morgen-ist-eh-alles-zu-spät noch mehr solcher fragwürdigen Subjekte?“ will Georgina wissen, was Khalil aus seinem jetzigen Wissensstand verneint. Georgina hakt nach, ob dieser AlDee etwas mit den damaligen Aktionen zu tun gehabt hätte. „Nee, ganz bestimmt nicht“, antwortet ihr Alexander, „der taucht auch gar nicht in den Erinnerungen auf.“
Damit belassen es die drei und wenden sich der Frage zu, wie sie jetzt fortzufahren gedenken. „Also, ich habe jetzt Hunger“, lässt Georgina verlauten, und da Khalils Vorräte nicht dazu ausreichen, um für drei Menschen ein sättigendes und zudem noch schmackhaftes Mahl aus ihnen zuzubereiten, entschließen sich Georgina, Khalil und Alexander dazu, ein von Khalil vorgeschlagenes Restaurant aufzusuchen.
„Und vergiss Deine Gitarre nicht“, erinnert Alexander, und so setzen die drei ihren Weg fort.