Sequenz neun

Es ist immer noch am regnen, als die vier vor der Hütte von Mikesch dem Treckernomaden stehen. Durch ein Fenster ist ein kleines Licht zu sehen; die Dunkelheit des Abends lässt sonst nichts erkennen, da der Mond und die Sterne fast vollständig von Wolken verdeckt sind. Auf das Klopfen von Morgen-ist-eh erfolgt keine Reaktion. „Vielleicht ist er nicht da“, vermutet Khalil. Als Morgen-ist-eh ein zweites Mal gegen die Tür klopft, ertönt von drinnen „wer ist denn da?“ „Ich bins, Morgen-ist-eh-alles-zu-spät. Ich habe Besuch mitgebracht.“ Es dauert eine Weile, dann sind schlurfende Schritte zu hören, die Tür wird geöffnet, und in dem Spalt ist das Gesicht von Mikesch zu erahnen. „Grüß Dich Mikesch. Gewährst Du vier Wanderern Einlass? Es ist nass und dunkel hier draußen.“ Kurzes überlegen, dann „ja, natürlich. Kommt rein.“ Nacheinander betreten Morgen-ist-eh-alles-zu-spät, Alexander, Georgina und Khalil durch einen kleinen Flur die Bude vom Treckernomaden, die vollgestellt ist mit Mobiliar und allerlei Krimskrams. Khalil und Mikesch begrüßen sich mit Handschlag, Alexander und der Treckernomade umarmen sich. „Und ich bin Georgina.“ Für einen Moment steht Mikesch wie zu einer Salzsäule erstarrt, dann kniet er tatsächlich vor der Frau nieder. „Es ist mir eine Ehre, Sie in meiner bescheidenen Behausung begrüßen zu dürfen.“ Georgina steht da, das kahlrasierte Haupt des vor ihr knieenden Mannes betrachtend, an dessen Hinterkopf ein geflochtener Zopf prangt, und ist wieder reichlich verlegen, wie vorhin bei der Ehrerbietung von Morgen-ist-eh in Khalils Wagen. „Bitte, Mikesch, ich…“ Mikesch erhebt sich, steht mit einem strahlenden Lächeln vor der Frau, besinnt sich seiner Rolle als Gastgeber.
„Möchtet ihr was trinken? Ich kann Tee zubereiten. Ich habe Chai da…“ Damit trifft er Georginas Geschmack. „Echten Chai?“ fragt sie nach, was Mikesch mit stolzgeschwellter Brust antworten lässt „selbstverständlich! Die Beiden, denen der Hof hier gehört, sind Gewürzhändler. Von ihnen habe ich die original Zutatenmischung. Die koche ich mit Milch auf…“ Khalil möchte ebenfalls einen Tee, die beiden anderen entscheiden sich für Limo oder gerne auch Wasser. „Kommt sofort!“
Während die Besucher sich Sitzplätze suchen, betrachtet Georgina ein etwa ein mal zwei Meter großes Tuch, auf dem ein silberfarbener Vogel eingewebt ist. „Das stellt den Phönix dar“, erklärt Mikesch, der mit zwei Flaschen Bionade aus der Küche zurückgekehrt ist. Das ihm dargereichte Getränk ergreifend beginnt Alexander zu dozieren: „in der ägyptischen Mythologie ist der Phönix – oder auch Benu – meist dargestellt in der Gestalt eines Reihers, verbunden mit dem Sonnengott oder auch mit Osiris, dem Gott der Wiedergeburt“. „Es ist das Wappentier der Jediritter“, fällt Morgen-ist-eh dazu ein, und da ertönt aus der Küche das Pfeifen eines Wasserkessels. Georgina setzt sich neben Khalil, der auf dem mit Kissen und Decken drapierten Bett platz genommen hat. Alexander und Morgen-ist-eh haben sich auf den am Boden liegenden Sitzkissen niedergelassen. Von irgendwoher streift ein Katzentier heran, reibt sich an Georginas Beinen und springt ihr anschließend auf den Schoß. „Du bist aber ein Hübscher!“ Wohlig schnurrend lässt sich das Tier von der Frau kraulen. „Django ist sehr wählerisch bei der Auswahl seiner Menschen.“ Mikesch stellt das Tablett mit den drei Bechern auf einem kleinen dreibeinigen Tisch ab, reicht Georgina und Khalil je einen Becher, nimmt sich selber einen, und setzt sich auf ein Kissen zu den beiden auf den Boden. „Hmm, der ist aber lecker“, lobt Georgina, und Khalil pflichtet ihr bei.
Damit ist das Begrüßungszeremoniell beendet, und Mikesch fragt nach dem Grund ihres Kommens. „Jemand hat einen Brandanschlag auf den Wohnwagen eines Hofbewohners verübt. Ich bin aber ziemlich sicher, dass dieser Anschlag mir gegolten hat.“ „Weißt Du, wer?“ fragt Mikesch nach. „Ich vermute, dass Mister Abaw dahintersteckt.“ Mikesch nickt. „Da fällt mir als erstes Barfly ein. Er ist einer von Abaws Schergen geworden“, weiß Mikesch zu berichten. „Das ist bedauerlich zu hören“, lässt Alexander verlauten, weist aber den Verdacht ab, dass er eventuell zu den Tätern gehören könnte. „Mir fällt da noch dieses Gebärdensprachepärchen ein“, erinnert sich Khalil, wobei die Gedanken an das damalige Zusammentreffen im Keller ein Unwohlsein bei ihm hervorrufen. Sonst hat nur noch Morgen-ist-eh eine vage Erinnerung an Neila und Lyndon, als sie im Stadtpark aufgetaucht waren.
Nun berichtet der Treckernomade von seinem letzten Zusammentreffen mit Barfly vor vielleicht acht Jahren. Barfly kam zu ihm, da wohnte Mikesch noch in einem Zirkuswagen, textete ihn voll, er solle doch zu ihnen kommen, auf die Seite von Mr. ABAW. Mikesch beschlich ein ungutes Gefühl, und so machte er sich mit Deutz und Zirkuswagen auf Richtung Süden, nach Portugal, tauchte dort in einem kleinen Kaff namens Fuseta unter, freundete sich mit einer in der Nähe lebenden Hippiekommune an und blieb dort mehrere Jahre. Vor einiger Zeit trieb es ihn wieder zurück, meinte, dass die Luft mittlerweile rein sei, und nun dies!
„Was sind das auch für Scheisszeiten!“ Mikesch sitzt da, sein rasiertes Haupt in den Händen vergraben. „Vielleicht kannst Du uns helfen“, wendet sich Georgina an ihn. „Es ist unendlich wichtig für uns, dass wir erfahren, wo sich zwei unserer Gefährten aufhalten, und wo wir Diego Balanza finden können. Weißt Du etwas darüber?“ Der so Befragte versteckt sich hinter seinen Händen, schüttelt den Kopf. „Von George und Susha weiß ich nix. Ich weiß nur von Hübsch-Dich-zu-sehen, dass er tot ist…“ Georgina beugt sich zu Mikesch vor, legt ihm ihre linke Hand auf die Schulter. „Weißt Du etwas über D.B.?“ „Das Kopfschütteln wird stärker, die Hände verkrampfen sich. „Ich…ich kann es euch nicht – ich darf es euch nicht sagen!“ „Bitte?“ „Er hat es mir abgenommen, das Versprechen! Ich habe geschworen, nie Jemandem sein Versteck zu verraten!“ Georgina redet weiter auf den vor ihr auf dem Boden Hockenden ein, ihre Stimme ist ruhig und freundlich, aber bestimmt. „Hilf uns, womit auch immer Du bereit bist. Wir müssen George und Susha finden. Ohne sie können wir nicht das Siegel des Salomon bilden, um damit die bösen Kräfte zu bannen…“ Mikesch überlegt, wägt ab, trifft eine Entscheidung: „Ich werde Diego aufsuchen und ihm euer Anliegen vortragen. Seine Antwort werde ich euch übermitteln.“ „Das ist ja nun wirklich der Hammer!“ reagiert Alexander ungehalten auf Mikeschs Überlegungen. „Da geht die Welt den Bach runter, und wir müssen abwarten, ob der Herr Balanza uns Audienz gewährt!“
Khalil beschwichtigt ihn, sagt, dass die Vorgehensweise vom Treckernomaden seine Berechtigung habe, denn je weniger Eingeweihte über Diegos Aufenthaltsort bescheid wüssten, desto geringer sei die Möglichkeit, dass dieser verraten würde. Als Alexander daraufhin erwidert, dass alle hier im Raum Anwesenden mit dem Bewahren von Geheimnissen doch bestens vertraut seien, erinnert Georgina ihn an die damaligen Verhöre, die er, Alexander, nicht am eigenen Leibe erfahren musste.
„Und wenn der oder die Attentäter noch einmal zurückkehren?“ äußert Mikesch seine Befürchtung, „da wäre es doch für Khalil sicherer, wenn er hierbleibt.“ Dem stimmen Georgina, Alexander und Morgen-ist-eh zu, Khalil jedoch ist von dem Vorschlag etwas überrumpelt. „Ich weiß nicht, ich hab doch jetzt gar nichts mit…“ Morgen-ist-eh-alles-zu-spät hat eine Lösung parat: „Morgen gleich nach der Arbeit fahre ich beim Hof vorbei und bring Dir die Sachen mit, die Du brauchst.“ Khalil zeigt sich immer noch unschlüssig, möchte seinen Wagen nicht so lange unbeaufsichtigt lassen, und verweist auf Johann, der da alleine ist. „Johann weiß sich seiner Haut zu wehren“, wirft da Georgina ein. „Und wenn Dein Wagen in Brand gesteckt werden sollte“, fährt die Frau pragmatisch fort, „ist das zwar sehr schade, aber besser, wenn Du Dich nicht darin aufhältst.“ „Also abgemacht! Und was ist mit euch?“ will Mikesch an Georgina und Alexander gewandt wissen, worauf Alexander antwortet, dass er morgen wieder zur Uni fahren muss, und Georgina lässt verlauten, dass sie sich in ihrem Laden am sichersten aufgehoben fühle.
„Wieso benötigt ihr lediglich fünf Leute für die Bildung des Salomonischen Siegels?“ will Morgen-ist-eh da wissen. „Als Siegel Salomons wird doch der Davidstern bezeichnet, und der besitzt sechs Spitzen…“ „Beides trifft zu“, kann Alexander wieder sein Wissen kundtun. „Sowohl der Davidstern als auch das Pentagramm werden als das Siegel Salomons bezeichnet…“ „…Wobei der Davidstern für die Verbundenheit der jüdisch-religiösen Menschen mit ihrem einen Gott, also Jahwe, steht, während das Pentagramm zwar auch für Gottheit steht, aber nicht im Sinne von etwas Übergeordnetem, Übernatürlichem, sondern als Symbol für die Stoffe, ohne die das Leben hier auf dem Planeten Erde nicht möglich ist“, weiß Georgina zu ergänzen.
Alsbald brechen Alexander und Georgina auf; Alexander bringt Georgina noch zu ihrem Geschäft und fährt anschließend zu sich nach hause.

Am nächsten Tag schließt Georgina wie immer um neun Uhr morgens die Ladentür auf, betrachtet auf dem Bürgersteig stehend die Auslage vom Schaufenster, entscheidet sich dafür, nachher umzudekorieren. Sie will die Bibel herausnehmen, weiß aber noch nicht, was für ein Buch sie an deren Stelle hineinlegen wird. Die Frau beginnt, den in den Regalen sich angesammelten Staub fortzuwischen, hat aber schon bald kein Vergnügen mehr an dieser Tätigkeit, bereitet sich einen Tee zu und setzt sich an den Küchentisch, denkt zurück an das gestrige Treffen. Wie schön wäre es, wenn sie alle Diego wiedersehen könnten! Jedoch ist es wichtiger, George und Susha ausfindig zu machen. Die Möglichkeit bestand, dass der Kontakt über D.B. hergestellt werden konnte, wenn auch sein Besuch bei ihr nicht den Eindruck erweckt hatte, dass er etwas über den Aufenthaltsort der Beiden weiß. Georgina erinnert sich an ihren Traum, den sie vorletzte Nacht gehabt hat, fragt sich, wer die Person gewesen ist, die sie dort auf der Bank hat sitzen sehen. Susha, Khalil, Hübsch-Dich-zu-sehen, sie und George haben die Traumwelt errichtet, und nur sie haben die Möglichkeit, diese zu betreten. Diego hat es all die Jahre abgelehnt, Teil der Traumwelt zu werden; die Gründe sind der Frau nicht bekannt. Und wer konnte an der Stelle von Hübsch-Dich-zu-sehen das Fünfte Element ersetzen? Georgina entfährt ein Seufzen. Sie greift zum auf dem Tisch liegenden Tabakbeutel und will sich eine Zigarette drehen, da ertönt die Türglocke. Georgina legt das Rauchwerk beiseite, steht auf und betritt den Verkaufsraum. Im Eingangsbereich steht ein Mann, wegen des durch die Scheiben hereindringenden blassgrauen Lichts ist nur seine Silhouette zu sehen.
Georgina spürt ein Schaudern ihren Rücken entlangkriechen, als er sie anspricht. „Georgina…Darling?“ Nur kurz überlegt sie, die Flucht zu ergreifen, entscheidet sich dagegen, wissend, dass dies sinnlos ist. Eine Abordnung der Dunklen Mächte ist in ihr Reich eingedrungen, und es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich ihr zu stellen.
„Wer sind Sie?“ fragt Georgina den Eindringling, und erhält als Antwort „Mister Abaw schickt mich“, was der Frau klar ist. Sie aber will den Namen wissen von dem, der gekommen ist, ihr Leben zu beenden, davon geht Georgina aus, und wiederholt ihre Frage, dabei jedes einzelne Wort betonend, um damit ein Zittern in ihrer Stimme zu vermeiden. „Mein Name ist für Sie bedeutungslos“, erwidert der Mann darauf, „aber Sie sollen erfahren, weshalb ich gekommen bin“. Sie habe die Möglichkeit gehabt, zu konvertieren, auf ihre Seite zu wechseln. Stattdessen hat sie sich versteckt und weiterhin ihrem gottlosen Aberglauben gefrönt. Während der Mann auf sie einredet, ist Georgina die drei Stufen von ihrem Wohnbereich hinabgestiegen und hat sich neben eines der Regale gestellt, sich mit der linken Hand daran abstützend.
„Wir haben nie jemanden gesucht, den wir anbeten konnten“, hält Georgina dem Mann entgegen.. „Genau so wenig, wie wir selbst angebetet werden wollten. Uns war allein der Weg der Erkenntnis wichtig. Und dabei hat uns Diego Balanza ein Stück weit geholfen.“ „Teufelswerk, um Zwietracht unter den Menschen zu säen! Mister Abaw, der Baumeister, will die Einigkeit aller Religionen, um damit den Zweifel, den Hass und die Kriege zu beenden“. Georgina schnaubt verächtlich. „Die Geschehnisse in der Welt sprechen eine andere Sprache. Kriege werden geführt, um damit auch das Wissen alter Glaubensgemeinschaften auszulöschen und so die Macht des einen Gottes zu stärken. Doch die, die sich als Stellvertreter dieses Gottes bezeichnen, sind der Dunklen Seite anheimgefallen. Sie sind die Träger des Grauen Schliers…“
Der Mann schüttelt bedauernd seinen Kopf, sagt „Du hast es nicht anders gewollt“, zieht seine rechte Hand mit der Beretta aus der Jackentasche und drückt ab. Georgina stürzt nach vorne, geduckt.
Ein zufälliger Beobachter, der in diesem Moment einen Blick durch die Schaufensterscheibe getan hätte, würde schwören können, dort in dem staubigen Licht etwas Raubvogelhaftes sich auf den Mann zubewegen zu sehen. Eine optische Täuschung, sicherlich, hervorgerufen durch Georginas braune, ihr bis über die Hüften reichende Strickjacke, die sich bei der heftigen, nach vorne strebenden Bewegung aufgebauscht hat, und so wie das Gefieder eines Vogels erschien. Und der Gegenstand in ihrer linken Faust erweckte aufgrund der Schnelligkeit des Vorgangs den Eindruck, da würden Krallen auf den Körper des Mannes niederfahren, oder auch ein scharfer Schnabel zustoßen.
Georgina will aber mit dem aus dem Regal gegriffenen Messer lediglich dem Mann die Pistole aus der Hand schlagen, was ihr auch gelingt, doch durch die abwehrende Bewegung, die der Mann mit seinem anderen Arm vollführt, wird das Messer hin zu seiner Brust gelenkt, wo die gut fünfzehn Zentimeter lange Klinge bis fast zur Hälfte eindringt und dabei Adern durchschneidet und lebenswichtige Organe verletzt. Der Attackierte stürzt rücklings zu Boden, dabei die Frau mitreißend, die immer noch den Griff umklammert hält. Dadurch wird die Klinge noch ein Stück weiter in die Wunde hineingetrieben, bis Georgina das Messer loslässt und sich hochrappelt. Der Mund des dort am Boden Liegenden ist zu einem Schrei geöffnet, den er jedoch nicht ausstoßen kann, da Blut aus ihm herausgurgelt.
„Scheiße, nein!“ Sekunden später liegt der Mann erstarrt da, und Georgina schaut in die offenstehenden Augen eines soeben Verstorbenen. Mit zittrigen Fingern schließt Georgina die Ladentür ab, so dass nicht gerade jetzt jemand das Geschäft betritt und den Schlamassel mitbekommt.
Es war Notwehr gewesen, klar. Die Frau überlegt, ob sie die Polizei rufen soll, verwirft jedoch diesen Gedanken. Sie eilt zu ihrem Telefon, wählt die Nummer von Alexander, hört die Stimme der Mailbox. „Georgina hier. In meinem Laden liegt ein Toter. Es ist einer von Mister Abaws Leuten. Er wollte mich erschießen. Komm bitte, schnell!“ Sie legt den Hörer auf, atmet tief ein, wieder aus. Und sie beginnt zu überlegen, wie die Leiche am besten fortzuschaffen wäre.

Nach fast dreieinhalb Stunden Fahrt, die ihn bei einer Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometern über die E 30 und die E 45 geführt hat, erreicht Hans am Nachmittag sein Ziel. Er parkt den Wagen etwas abseits vom Hof, setzt eine Brille mit getönten Gläsern auf und nähert sich den Gebäuden, dabei nach möglichen Zeugen seiner Ankunft spähend. Schon bevor der Mann die Wegbiegung erreicht, hat er den Geruch der Brandstelle in der Nase, und gleich darauf wird er der verkohlten Überreste des Wohnwagens angesichtig. Er registriert sofort, dass der Tatort nicht durch ein Absperrband gesichert worden ist, also sind Feuerwehr oder Polizei nicht benachrichtigt worden.
Hans ist geboren in Austin, Texas, Vereinigte Staaten, von seiner jüdischen Mutter, die mit ihren Eltern im Mai 1939 auf der MS Europa zusammen mit 463 weiteren Passagieren von Bremerhaven aus Deutschland verließ. Vom Zielort New York gelangten sie mit der Eisenbahn nach Harrisburg, wo sie von Verwandten ihres Großvaters mütterlicherseits auf das herzlichste in Empfang genommen wurden. Lydia wuchs im Kreis der dort angesiedelten jüdischen Gemeinde auf, und lernte mit achtzehn, neunzehn Jahren einen etwa zwanzig Jahre älteren, noch vor Beginn des Krieges aus Deutschland ausgewanderten Geschäftsmann kennen, der dort gerade zu Besuch weilte. Karl gestand ihr seine Liebe und machte ihr einen Heiratsantrag, den sie annahm. Lydia ging mit ihm in das zweitausend Kilometer entfernte Austin, wo er eine leitende Position bei einem Energiekonzern innehatte, der trotz Wirtschaftskrise im Aufstreben begriffen war, 1933 von Saudi Arabien die Konzession zur Ölsuche erhalten hatte und 1938 dort fündig wurde.
Nach zehn Jahren harmonischen Zusammenlebens gebar Lydia im Alter von dreißig Jahren Hans, und fünf Jahre darauf noch eine Judith. Ihr Ehemann, nichtjüdisch, gehörte einer in der gesamten westlichen Welt miteinander verbundenen Glaubensgemeinschaft an, deren Mitglieder miteinander korrespondierten, sich gegenseitig besuchten und auch unterstützten, dies nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch, wenn es darum ging, einflussreiche Posten beispielsweise in Wirtschaft oder auch Politik zu besetzen. Zudem unterhielten sie private Bildungsstätten, in denen ihr Nachwuchs respektive sich nach ihren Maßstäben qualifizierende Sprösslinge von Freunden oder Geschäftskollegen die denkbar bestmögliche Förderung erhalten sollten. Ein solches Internat war Karl von Freunden in Deutschland empfohlen worden, und dorthin wollte er Hans nun schicken. Es gab nächtelange Diskussionen mit Lydia, und schließlich wurde der Kompromiss ausgerungen, Hans wenigstens noch seine Bar Mitzwa feiern und ihn damit in die jüdische Glaubensgemeinschaft eintreten zu lassen, was für die Aufnahme in dem Internat keinen Hinderungsgrund darstellte. Nach Vollendung des dreizehnten Lebensjahres war also der Zeitpunkt gekommen, an dem Hans sich von Mutter und Schwester verabschiedete und, begleitet von seinem Vater, in das Geburtsland seiner Eltern und Großeltern reiste.
Dort besuchte der Junge ebenjenes Internat, in dem zehn oder zwölf Jahre zuvor Mr. ABAW zusammen mit seinem Bruder die Schulbank gedrückt hatte, machte mit zwanzig seinen Abschluss, und begann ein Medizinstudium in Marburg an der Lahn, dies selbstverständlich unter der Obhut von Professoren, die ebenfalls der Gemeinschaft angehörten oder zumindest nahestanden. Nachdem Hans den Doktortitel erworben hatte, bewarb er sich auf eine freigewordene Stelle im Klinikum in Weimar, in dem, so fügte es das Schicksal, wegen des Verdachts auf ein Bronchialkarzinom Mr. ABAW auf der Station für Privatpatienten lag. Beide kamen sie ins Gespräch, schwelgten in Erinnerungen an gemeinsame Dozenten, und dann erzählte Mr. ABAW von seinen Glaubensvorstellungen und Plänen. Hans hörte aufmerksam zu, der Verdacht auf Krebs bestätigte sich bei Mr. ABAW nicht („rauchen Sie weniger“, gab man ihm mit auf den Weg), und ein paar Monate später folgte Hans Mr. ABAW, um fortan in seine Dienste zu treten.
Hans hat das Grundstück betreten, sich mit Blicken zum Nachbargrundstück vergewissernd, dass seine Anwesenheit nicht bemerkt wird. Hinter der Scheune von einem Holunderbaum geschützt entdeckt er den Zirkuswagen Khalils, steigt die Holztreppe des Vorbaus hinauf, rüttelt an der Tür. Das Schloss aufzubrechen hält Hans für Zeitverschwendung, entscheidet sich dafür, es bei -wie ist noch der Name?- Johann, dem Pflanzenesser zu versuchen. So begibt er sich zum Wohnhaus, schlängelt sich an den Brombeerranken vorbei, betätigt den Klingelknopf neben der Eingangstür. Als daraufhin nichts geschieht, drückt der Mann gegen den Türgriff, spannt seine Armmuskeln, drückt ein zweites Mal, und -zack- gibt die Tür nach. Hans betritt die Diele des ehemaligen Bauernhauses. Alte, mit Staub bedeckte Schränke stehen dort, auf einem Tisch stapeln sich Zeitschriften und Haufen loser Zettelsammlungen.
„Was ist da los? Wer bist Du, was willst Du hier?“ Aus einem der angrenzenden Zimmer ist Johann gekommen, die Jagdflinte in den Händen auf den ungebetenen Besucher richtend. Dieser ist überrascht von dem Auftreten des Hausherrn, zeigt dies aber nicht, erklärt, dass er auf der Suche ist nach Khalil, und dass die Tür aufgestanden hätte… „Das stimmt nicht! Die Tür ist immer zu! Und nu verschwinde hier!“ Hans macht beschwichtigende Gesten, bewegt sich langsam in Richtung Johann. „Ich habe sehr wichtige Informationen für Khalil, ihn und auch seine Freunde betreffend. Sie kennen sie doch? Waren sie hier?“ „Garnix weiß ich! Und ich sach auch nix! Und jetz raus hier, oder ich schieße!“ Da macht Hans einen weiteren Schritt auf Johann zu, reißt ihm die Flinte aus den Händen, die daraufhin ungenutzt zu Boden fällt, und versetzt dem nach vorne Stolpernden einen Boxhieb auf die Nase. Den alten Mann durchzuckt ein Schmerz, der ihn wanken und in die Kniee gehen lässt. „So, und jetzt raus mit der Sprache! Wo ist Khalil hin? Und wer hat den Wohnwagen angesteckt?“ Blut fließt aus Johanns Nase, das sein weißes Feinrippunterhemd besudelt und auf den staubbeladenen Perserteppich tropft. „Freunde von Khalil waren da. Diese Georgina, und ein Alexander…“ Johann nestelt ein Zellstofftaschentuch aus der Tasche seiner Jogginghose, hält es sich vor die Nase. „Weiter! Wo wollen sie hin?“ „Das kann ich nicht sagen“, leistet der Pflanzenesser noch einmal Widerstand, was ihm einen kräftigen Schlag mit den Handinnenflächen auf beide Ohren einhandelt. „Auu! Bitte, nicht mehr schlagen!“ „Wo sind sie hingefahren?“ „Sie wollen zum Treckernomaden. Dieser Morgen-ist-eh-alles-zu-spät weiß, wo Mikesch wohnt.“ „Und wo ist das?“ „Bei den Gewürzhändlern vom Mittelaltermarkt, auf einem Hof in der Nähe vom Feld…“ „Na, also, Johann, es geht doch.“
Hans reicht Johann seine linke Hand, um ihm beim Aufrichten zu helfen. Mit etwas zittrigen Knieen hat es der Mann bereits zur Hälfte geschafft, da vollführt Hans mit dem rechten Arm eine schnelle, gezielte Bewegung von links nach rechts in der Höhe des Halses von Johann, lässt daraufhin die Hand los und tritt zur Seite. Johann sackt zusammen, will mit den Händen das Blut aufhalten, das in zwei Fontänen aus der wohl zehn Zentimeter langen Schnittwunde dringt. Doch dafür reicht seine Kraft nicht mehr, auch nicht, seinen Sturz auf den Boden zu mindern.
Mit einem Schnupftuch aus Stoff wischt Hans die Klinge seines Messers ab, steckt es zurück in die Hosentasche, verweilt noch einen Moment, ein kurzes Gebet für den Toten sprechend, dann verlässt er den Ort des Geschehens, um sich zu der angemieteten Wohnung zu begeben.