Bevor die Dunkelheit kommt

Der Mann geht einen Feldweg entlang.
In dem Geäst der Bäume, die neben dem Weg stehen, rascheln tote Blätter trocken im Wind.
Auf der anderen Seite befinden sich brachliegende Äcker und ein Feld mit nicht abgeerntetem verwelktem Mais.
Das Holz einer am Wegesrand aufgestellten Bank ist ebenso verwittert wie die Pfähle des teilweise niedergerissenen Drahtzaunes, der zu einer zugewucherten Wiese gehört hat.
Es sieht nicht so aus, als ginge der Mann spazieren, sondern als sei er auf der Suche, als hielte er nach etwas Ausschau.
Er trägt eine Rucksack bei sich und schwere Stiefel an den Füßen.
Er überquert eine Straße; der Asphalt ist an vielen Stellen aufgeplatzt und weist Risse auf.
Neben der Straße, halb von Brombeersträuchern verdeckt, liegen Abfallsäcke, aus denen Konservendosen und Plastikmüll herausquellen.
Der nun leicht abschüssig verlaufende Weg führt den Mann in einen Wald hinein, in dem morastigen Boden haben sich Regenpfützen angesammelt.
Der Geruch von vermoderndem Holz liegt in der Luft.
Eine Krähe bricht protestierend aus dem Geäst und flattert aufgeschreckt davon.
Die Sonne verliert immer mehr an Kraft, die Dämmerung beginnt einzusetzen.
Die Schritte des Mannes haben sich verlangsamt, so, als würde er spähen, pirschen, gleichzeitig lauschen, um irgendwelche Signale oder Zeichen zu vernehmen.
Er hält inne, und bemerkt am Rand einer Lichtung ein Reh. Still steht das Tier da, als würde es auf etwas warten. Auch der Mann verharrt, und als er den Kopf zu dem Tier dreht, ist zu erkennen, dass der Mann ich ist. Da verschwindet das Wild in einem neben der Lichtung stehenden Gebüsch.
Mein Blick fällt auf eine Gruppe von Birken, die sich auf der Lichtung befindet. Ich bewege mich auf die Birken zu, schiebe den dort wachsenden und mir bis zu den Schultern reichenden Beifuß und die Brennnesseln beiseite, die sich sogleich wieder hinter mir schließen.
Aus dem Rucksack hole ich eine Decke und eine Flasche, setze die Flasche an meinen Mund, trinke ihren Inhalt langsam und bedächtig.
Ein Schwarm Wildgänse zieht vorüber, ihre Laute dringen beruhigend an mein Ohr.
Ich lege mich auf die Decke, meinen Blick auf die Silhouetten der Bäume richtend.
Der Trunk hat eine den ganzen Körper durchströmende Wärme entfacht, die mich die Kälte des Abends vergessen lässt.
Am Himmel werden die ersten Sterne sichtbar. Müdigkeit überkommt mich, und so schließe ich die Augen.
Ich sehe einen Pfad vor mir auftauchen, der gesäumt ist von blühenden Bäumen und Büschen. Die Sonne scheint hell und wärmend, vereinzelt sind Wolken am Himmel zu sehen. Eine Gestalt kommt mir auf dem Pfad entgegen. Es ist ein alter Mann, er winkt mir zu, als er mich sieht, und sein Gesicht ist voller Heiterkeit und Freude.
Ich erkenne in dem Mann John, also muss ich mich in einem Traum befinden, da John bereits vor langer Zeit gestorben ist.
John ergreift meine Hand, und ich höre ihn fragen, ob ich mich denn genügend vorbereitet habe auf diesen Weg. Im selben Augenblick verspüre ich ein Ziehen im Bauch und in meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Am Firmament breitet sich etwas Dunkles aus, und ich kann dem vor mir stehenden Mann nichts entgegnen, doch er scheint die Antwort bereits zu wissen, nickt mir traurig zu und geht weiter, in meine
Herkommensrichtung. Sein gewinnendes Lächeln gilt jetzt jemandem, der sich hinter mir befindet.
Ich weiß, dass ich mich nicht zu ihm umdrehen darf, da ich sonst aus diesem Traum erwachen würde.
Doch dies kommt für mich nicht mehr in Frage.
Ich will in dem Traum bleiben, in ihm weiterreisen, hin zu Orten, an denen ich früher einmal war oder auch noch nie gewesen bin…
Ich bin mir auf einmal nicht mehr sicher, ob mir dafür ausreichend Zeit zur Verfügung steht, und weiß im selben Moment, dass Zeit hier keine Bedeutung hat. Es ist Energie, die ich hier benötige. Danach hat mich John gefragt.
Und da bedaure ich, in meinem Leben nicht genug von dieser Energie angesammelt zu haben, weil ich durch so vieles anderes abgelenkt worden bin.
All diese Dinge sind nun nicht mehr wichtig.
Am Himmel breitet sich das Dunkle immer weiter aus, wabernd, Teile daraus lösen sich und fallen tropfenähnlich auf die Erde. Ich spüre, wie Kälte sich um mich herum und gleichzeitig in mir ausbreitet. Ein Sturm setzt ein, der mich mitreißt, hinauf und hinein in die Dunkelheit, in der ich beginne, mich aufzulösen.

Christian C. Kruse