Die Frau atmet tief den Geruch der Bäume und Pflanzen ein. Nachdem sich vor nicht allzu langer Zeit Wolken vor den Mond geschoben haben, pirscht sie durch fast vollkommene Dunkelheit. Der Boden unter ihren nackten Füßen ist ein weicher Teppich aus bestimmt seit Jahrzehnten ungestört herabfallendem Nadelwerk.
Die Frau weiß nicht, wo sie sich befindet; seit Stunden wird sie geleitet von einem Signal, dem sie folgt. Zu Beginn ist sie noch unsicher, stolpert über Äste, strauchelt bei Unebenheiten, doch in dem Moment sie sich auf die Umgebung einlässt, werden ihre Schritte sicherer. Als nun das Licht des Mondes verdeckt ist, könnte die Frau sich genau so gut mit geschlossenen Augen bewegen – vielleicht tut sie dies auch, um so die sie umgebenden Gerüche intensiver wahrzunehmen: lebendiges Holz, totes, vermoderndes Holz, der schwere Geruch von Pilzen…
Bis auf das Rauschen in den Baumwipfeln und das Knarren vereinzelter vom Wind bewegter Baumstämme hat die Frau bisher kein anderes Geräusch vernommen; da lässt sie ein ganz aus der Nähe kommendes Stampfen und Rascheln in der Bewegung verharren. Sie dreht den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch zu ihr dringt – sie vermutet ein ebenfalls in dieser Nacht umherstreifendes Tier – und nimmt zwei Lichtpunkte wahr, dies in dem Moment, als das Signal abbricht.
So ändert sie die Richtung, bewegt sich auf die Lichter zu, vernimmt dabei, wie das keuchend atmende Tier sich von ihr entfernt. Noch eine Weile ist sein Stampfen und das Knacken im Unterholz zu hören.
Während die Frau sich den Lichtern nähert, verblasst die Schwärze der Nacht zu einem morgendlichen Grau, und mit dem Anbruch des neuen Tages sieht sie vor sich eine Hütte stehen, schwarz und verwittert das Holz, bereits Bestandteil des Waldes geworden. Durch die zwei Fenster dringt noch schwach das Leuchten aus dem Inneren der Hütte. Die Frau betritt eine Veranda, öffnet ohne zu zögern die Tür, und ihr Blick fällt auf ein auf Europaletten und Autoreifen gelagertes ovales Kunststoffteil, vielleicht zwei Meter lang und im Durchmesser einen Meter fünfzig. Es ist aufgeklappt. Sie tritt heran, schaut hinein, sieht, dass es mit einer fluoreszierenden Flüssigkeit gefüllt ist. In die aufgeklappte Oberseite sind mehrere Schalter und Hebel eingelassen, Dioden leuchten abwechselnd blau und rot. Von dem Gerät geht ein leises Summen aus.
Die vor dem Floatingtank Stehende taucht ihre rechte Hand in die Flüssigkeit; sie ist angenehm warm und fühlt sich gelartig an.
„Das ist schön, nicht?“ Zuerst meint die Frau, dass die Stimme sich in ihrem Kopf befindet, doch als sie sich umdreht, wird sie eines Mannes angesichtig, der dort im Eingang steht und sie erkennend anlächelt. Sein hagerer Körper ist in einen weißen Frotteebademantel gehüllt, an den Füßen trägt er Sandalen. Sein silbergraues Haar hat er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
„Sei gegrüßt, Susha“, spricht der Mann sie an. „Schön, dass wir uns nach all den Jahren endlich wieder einmal begegnen.“ Die Frau nickt, sagt „ich freue mich auch, Diego“, und der Mann tritt auf sie zu, führt seine Hände an ihre Schultern, und in diesem Moment verschwimmt der Ort und sie wird zurück in die Dunkelheit gerissen…
Einige Augenblicke weiß Susha nicht, wo sie ist. Sie kann ihre Umgebung nicht fixieren. Immer wieder rutschen ihre Augen von den Gegenständen ab, bis sie es endlich schafft, den Blick an der Deckenlampe auszurichten, dann an dem Holzregal an der Wand ihr gegenüber. Durch die zugezogenen Vorhänge sieht sie Tageslicht. Susha greift nach dem Wecker, der neben der Matratze auf dem Boden steht. 7:45. Morgens. Aber welcher Tag? Dem nachzuforschen erscheint ihr im Moment unwichtig. Sie will sich an den Traum erinnern, schafft es aber nicht. „Jarrrh!“ Frustriert schlägt sie mit der flachen Hand auf den Boden.
Die Zimmertür wird einen Spaltbreit geöffnet und ein Katzentier nähert sich der Frau. „Hey, Jackie. Ich geb Dir gleich was zu essen.“ Im selben Moment sie dies sagt verspürt Susha ein Gefühl von Hunger, welches es schafft, sich gegen das Rauschen zu behaupten, das in ihrem Körper wütet, als würden Blut und Zellen durcheinandergewirbelt. Sie schlägt die Decke beiseite und erhebt sich, tappelt barfüßig los, Jackie hinterher.
In der Küche versorgt sie zuerst das Tier mit Futter aus der Dose, inspiziert anschließend den Kühlschrank, um festzustellen, dass ein Einkauf ratsam gewesen wäre. Gestern. Aber gestern ist…Sonntag gewesen, fällt es ihr ein. Das Rauschen und auch der Druck in ihrem Kopf gewinnen wieder die Oberhand. In Brust und Hals vernimmt sie den unruhigen Schlag ihres Herzens. So setzt die Frau sich erstmal an den kleinen Küchentisch, atmet ein, atmet aus. Jackie streift um ihre nackten Beine und verschwindet durch die Tür.
Der Traum! Susha schließt die Augen und versucht, die Bilder zurückzuholen… Bäume! Sie ist in einem Wald gewesen. Hat sie sich in ihrer Traumwelt befunden? Irgendjemand hat sie zu sich gerufen, meint Susha sich zu erinnern.
Jackie ist zurückgekehrt und macht sich durch maunzen bemerkbar. „Ach, hab ich die…“ Sie folgt der Katze, öffnet die Badezimmertür, damit das Tier sein Geschäft in den Kasten mit der Katzenstreu verrichten kann. Wieder in der Küche nimmt Susha zwei Scheiben Weißbrot und öffnet eine Dose Heringsfilet. Nach dieser Mahlzeit holt sie aus dem Küchenschrank eine Dosette, öffnet das erste Fach, schüttet die darin befindliche Tablette in ihre Hand, führt sie zum Mund, schluckt sie mit Milch direkt aus der Flasche hinunter.
So sitzt die Frau da, in ihrem fleckigen Nachthemd, und starrt vor sich hin. ‚Als nächstes werde ich also einkaufen gehen. Nein, erstmal sollte ich…‘- sie hebt ihren linken Arm und riecht an ihrer Achselhöhle – ‚…duschen!‘ Jackie ist vom Klo zurück und reibt ihren Kopf an Sushas Beinen. Die Frau hebt das Tier auf ihren Schoß und beginnt, sein Fell zu streicheln. „Dir geht`s gut, ja?“ Als Antwort lässt die Katze ein Schnurren vernehmen. Susha fängt an, vor sich hinzusummen. Eine Melodie ist ihr eingefallen, etwas, das sie gehört haben, Elias und sie, als er sie besucht hat, in dem Haus. Das war in dem Moment der Stille gewesen. Da haben Elias und sie sich geliebt, und dabei ein Kind gezeugt. Ihre Tochter. Es war eine Zeit voll der Hoffnung gewesen, als sie zusammen mit George, Georgina und den Anderen ihre Traumwelt erschuf. Dort lebten sie von dem, was in den Gärten wuchs. Mit ihren Traumkörpern reisten sie zu Orten, die sie sich vorstellten. In die Ozeane und Wüsten hier auf der Erde, oder auch zu den Monden des Jupiter.
Aber sie schafft es nicht mehr, sich daran zu erinnern, wer noch dabei gewesen ist. Wer hat sich später noch in dem Haus befunden? Durch die einsetzende Wirkung des Medikaments lassen der Druck und das Rauschen allmählich nach. Ihr Herz klopft jetzt ruhig vor sich hin. Ein. Aus. So schafft sie es, den Tag zu überstehen. Morgens eine Tablette gegen Depressionen. Mittags eine gegen ihre Ängste. Und zum Abend eine, damit sie einschlafen kann.
Ihre Hoffnungen zerbrachen, als die Wirklichkeit sie wieder einholte. Kriege wurden weiterhin geführt, die Umwelt zerstört. Desillusioniert brachen sie ihre Kontakte untereinander ab, zogen sich zurück. Susha suchte sich mit ihrer neugeborenen Tochter ein kleines Haus auf dem Dorf. Dort bekam sie ab und an Besuch von Elias, doch schnell stellte sie fest, dass er nicht der von ihr gewünschte Partner war. Von seinem Vater erhielt sie finanzielle Unterstützung, jedoch hielt er näheren Kontakt für nicht angebracht. Elias und sein Vater stellten eine andere Welt dar als die, die Susha und die anderen vier im Begriff gewesen waren zu errichten. Und diese Welt versuchte Susha verzweifelt für sich aufrechtzuerhalten, verbrachte oftmals einen ganzen Tag damit, in ihrem Traumkörper dorthin zu reisen, was sich in der Traumzeit anfühlte, als würde sie Wochen unterwegs sein.
Darüber vernachlässigte sie ihre Aufgaben als Mutter, bis ihr schließlich das Sorgerecht entzogen wurde und das Kind in die Obhut eines Ehepaares kam. Eine Zeitlang besuchte sie die Kleine, fand aber schon bald keine Kraft mehr dazu.
Nach und nach verschwanden die anderen aus der Traumwelt, die Gärten verwilderten. Um so mehr verspürte Susha nun das Leid, welches tagtäglich Menschen, Tiere und auch Pflanzen erlitten. Sie besaß kein Internet und keinen Fernseher, aus denen sie Meldungen darüber erhielt. Durch eine besondere Fähigkeit, die ihr zuteil geworden war, stand Susha in Verbindung mit der Lebensenergie, der Urkraft, und damit mit allen Lebewesen auf der Erde. Und aufgrund dieser hohen Sensibilität wusste sie um die Geschehnisse, und es bereitete ihr unsägliche Qualen, mitzuerleben, wie ihnen und dem Planeten immerwährend Schäden zugefügt wurden.
Eines Abends konnte sie es nicht mehr ertragen und rannte zu einer nicht unweit vom Dorf befindlichen Autobahnbrücke, mit dem Vorhaben, sich dort auf die Fahrbahnen zu stürzen. Eine gerade auf dem Heimweg befindliche Krankenschwester schätzte die Situation richtig ein, hielt ihren Wagen auf der Brücke, und konnte Susha mittels sanften aber bestimmten Zuredens von ihrer Tat abbringen. Nach einigen gezielt gestellten Fragen entschied sich die Frau dazu, die von ihr Aufgelesene in eine psychiatrische Klinik zu bringen.
Als sie den dort anberaumten Untersuchungen mit aggressivem Widerstand begegnete, wurde sie fixiert und sediert. Auf die Frage nach Angehörigen nannte sie Namen, die zu keinen Ergebnissen führten, und so wurde für Susha ein gesetzlicher Betreuer bestellt, ihr diese Stadtwohnung zugewiesen, in der sie nun seit einigen Jahren ihr Leben fristet.
Noch einmal einatmen. Susha setzt Jackie auf dem Linoleumboden ab und macht sich auf den Weg ins Badezimmer.
Es zieht ein Gewitter auf. Düster und drohend formen sich Wolken am Firmament; die Luft ist elektrisch aufgeladen. Der Mann hat sein Herannahen bereits einen Tag vorher gespürt. Der Wetterbericht im Radio stellt lediglich eine Bestätigung dar. Er leidet an Wetterfühligkeit. Manche bezeichnen es als eine Gabe, die Betroffenen selber betrachten es als Fluch, denn Wetterveränderungen kündigen sich durch Schmerzen an: Kopfweh, Gelenkschmerzen – bei ihm ist es die Wirbelsäule, verbunden mit einem höllischen Druck im Kopf, der ein zielgerichtetes Denken so gut wie unmöglich macht. Wie es jetzt der Fall ist. Den Morgen hat er im Bett verbracht, schafft es schließlich aufzustehen und sich ein Frühstück zuzubereiten, bestehend aus Joghurt mit Haferflocken und Bananenstücken. Dazu gießt er sich einen schwarzen Tee auf.
Nach dem Frühstück holt er die Tageszeitung aus dem Postkasten, überfliegt die Artikel, reiht im Grunde lediglich die Schlagzeilen aneinander, schüttelt seinen Kopf, faltet das Blatt zusammen, drückt den An-Knopf der Fernbedienung für das TV-Gerät, zappt durch. Die Bilder und Töne fügt er, genau wie zuvor die Überschriften, aneinander, im Sekundentakt ergeben sie eine bizarr-bedrohlich-bunte Collage aus Menschen, die ihre Partner tauschen, Hochzeiten vorbereiten, einkaufen gehen, Essen zubereiten, mit ihren Nachbarn streiten, in Polizeikontrollen geraten, verurteilt werden, die andere Menschen erniedrigen, schlagen, töten, aus Eifersucht, aus Hass, im Krieg. Und dann erklären Menschen, warum das so ist, diskutieren, ob es richtig ist oder falsch. Sie sind sehr emotional dabei. Alles ist sehr emotional. Das Diskutieren, das Einkaufen, das Kochen, das Töten…
Der Mann schaltet den Fernseher aus. Von der Ferne dringt Donnern an sein Ohr. Wind zerrt an den Ästen eines Baumes, den er durch das Fenster sehen kann. Ein Elsternpaar hat im Astwerk sein Nest errichtet. Er schaut den Tieren beim An- und Abflug zu, dann läßt ein Schwall Tränen seinen Blick verschwimmen.
Diese Feinfühligkeit, die dem Mann innewohnt, betrifft ihn nicht nur bei wechselndem Wetter. Nein, sie lässt ihn die Stimmungen, die Gefühle anderer Menschen spüren. Wie ein Seismograph schlägt sie aus, ortet Glückseligkeit oder Zuneigung ebenso wie Hass, Wut, Trauer. Seit seiner Kindheit besitzt er diese Fähigkeit, wenn auch da noch sehr undeutlich, da es die auf ihn einströmenden Informationen zu differenzieren und zu interpretieren ihm damals nicht möglich gewesen ist.
Als Heranwachsender beginnt er zu trinken, schafft es damit, die Gedanken, die Stimmen im Kopf einigermaßen ruhigzustellen, um so einen halbwegs geordneten Lebenswandel zu führen, der ihm erlaubt, Schule und Ausbildung zu bewältigen und Bekanntschaften zu schließen, auch wenn diese nur kurzlebig sind und meist oberflächlich verlaufen.
Sein weiteres Leben verläuft unstet. Er zieht umher, wohnt billig zur Miete – teilmöblierte Zimmer mit Bad und Kochgelegenheit reichen ihm aus – seine Habe hat Platz in einer Handvoll Umzugkartons, die er in einen gemieteten Transporter lädt und sich damit in die nächste Stadt fahren lässt. Dort sucht er sich Arbeit, trägt sein Geld in Kneipen, hat dadurch Kontakt zu anderen Menschen, die Gespräche sind fragmentartig. Man versteht sich ohne viele Worte, ertränkt seine Ängste und Nöte bei gemeinsamen Gelagen. Lange hält es ihn nicht an einem Ort, dann treibt es ihn weiter, manchmal schon nach wenigen Monaten, dann muss er los, in die nächste Stadt…
So ist der Mann auf der Flucht, auf der Suche, und eines Abends hat das Schicksal Erbarmen mit dem Getriebenen. Er sitzt in einer Bar am Tisch und schreibt auf einem Zettel seine Gedanken auf, trinkt dabei Guinness, welches dort frisch gezapft ausgeschenkt wird, als zwei Frauen den Schankraum betreten und am Tresen Platz nehmen. Der dort am Tisch Sitzende registriert sie, sieht, dass die beiden sich irgendwelche Cocktails bestellen, nimmt einen Schluck aus seinem Glas, widmet sich wieder dem Schreiben. Sonst befinden sich außer dem Wirt nur zwei junge Männer in der Bar, die mit einem Dartspiel beschäftigt sind. Über die Anlage läuft Musik; er meint, den Sänger zu erkennen, ist sich aber nicht ganz sicher. Also erhebt er sich, begibt sich zu der Theke, wartet, bis der Wirt zu ihm kommt, stellt seine Frage. Als Antwort greift der Barkeeper in die Ablage neben der Anlage und legt eine CD-Hülle auf den Tresen. George nimmt sie, besieht sich das Cover. Lou Reed ist darauf zu sehen. Der Titel der Scheibe ist New York
.
Der Barkeeper sagt, dass es sich um das aktuelle Werk des Künstlers handelt.
Die eine Frau raunt ihrer Sitznachbarin etwas zu, beide beginnen gleichzeitig zu lachen. Er schaut aus den Augenwinkeln zu ihnen herüber. Die mit den langen, blonden Haaren trägt ein kurzes, schwarzes Abendkleid, dazu schwarze Strumpfhosen (oder vielleicht auch Strümpfe?) und Stiefelletten, ebenfalls schwarz. Die zweite Frau hat schwarzes, schulterlanges Haar, ist gekleidet in ein cremefarbenes, etwa knielanges Sommerkleid, und trägt beigefarbene Highheels an ihren nackten Füßen.
Der Mann kehrt zu seinem Platz zurück, widmet sich seiner Aufgabe. Kurz darauf steht die Blonde vor ihm am Tisch. Der Mann bemerkt sie, schaut sie fragend an. „Was schreiben Sie denn da?“ wird er gefragt, und er antwortet „alles, was mir einfällt“. „Aha.“ Die Frau begibt sich wieder zu ihrer Freundin, setzt sich auf den Barhocker. Die Schwarzhaarige hat sich zur Seite gedreht, kann nun ab und an einen Blick auf den Schreibenden richten. Dieser gibt dem Wirt ein Zeichen, dass er ihm ein neues Glas Guinness bringen soll. Kurz darauf steht ein frisch gezapftes Bier auf dem Tisch.
Die beiden Jungs sind mit ihrem Spiel fertig, bezahlen ihre Getränke und brechen auf. Eine Gruppe kommt nun in die Gaststätte, wahrscheinlich sind es zwei Pärchen, die sich an einen Tisch setzen und Getränke sowie etwas zu essen bestellen. Der Wirt bietet unterschiedlich belegte Baguette an. Die zwei Frauen und einer der Männer entscheiden sich für die Baguette. Eine der Frauen will ihres mit dem anderen Mann teilen.
Der Schreiber ist abgelenkt, nimmt einen Schluck aus dem Glas, versucht sich zu konzentrieren, doch die auf ihn einströmenden Signale wirken störend, verwirrend, denn er kann sie nicht einordnen, nicht benennen. Der Mann reißt den beschriebenen Zettel vom Block, beginnt, auf dem neuen Blatt herumzukritzeln, was ihm gerade in den Sinn kommt, bemerkt erst, dass die beiden Frauen hinausgegangen sind, als die Blondhaarige, noch einmal zurückgekehrt, erneut an seinem Tisch steht. Er löst den Blick von dem bemalten Papier. „Bitte?“ Das Lächeln der Frau ist freundlich, offen. „Mein – meine … Schwester würde sie gerne kennenlernen, traut sich aber nicht, Sie anzusprechen…“ Er starrt in das Gesicht der Frau, sucht nach Hintergedanken, eine Falle, findet aber nichts dergleichen. „Nun, ich…“ beginnt er zögerlich, eine Antwort zu formulieren, senkt dabei wieder den Blick, betrachtet die auf dem Papier aufgemalten Kritzeleien – es sind Ziffern, eine Zahlenreihe – er hat seine Telefonnummer hingeschrieben.
„Hier…“ Er reicht der Frau den zusammengefalteten Zettel. „Das ist meine Telefonnummer. Wenn Ihre Schwester möchte, kann sie mich anrufen.“ Wortlos nimmt die Frau die angebotenen Kontaktdaten entgegen, steckt das Blatt in ihre mitgeführte Handtasche und verabschiedet sich mit einem „okay, tschüß“, dann ist sie durch die Tür hinaus.
Der Mann lauscht. In sich hinein. Die für ihn nicht zu definierenden Signale sind nicht mehr da. In seinem Kopf ist lediglich das ihm bekannte Grundrauschen, aus dem Stimmenfragmente vernehmbar sind. Gedanken, die sich mit seinen vermengen, in einem endlosen Strom dahinfließen. Alles wieder normal. „Sie wird eh nicht anrufen“, sagt eine der Stimmen, wahrscheinlich ist es sein Selbst, und er empfindet eine Traurigkeit darüber, nimmt einen großzügigen Schluck aus dem Glas, um gleich darauf wieder etwas auf Papier zu bringen.
Einige Tage darauf klingelt das Telefon bei ihm. Als er abhebt und sich meldet, spricht die Stimme einer Frau, die sagt, dass es sich bei ihr um die Unbekannte aus der Bar handelt, und dass sie ihn wiedersehen möchte, wo, überlasse sie ihm, auch ein Besuch in seiner Wohnung käme in Frage, wenn dies ihm nicht unangenehm wäre.
Der Mann, völlig überrumpelt von der Initiative der Frau, willigt ein, sie machen einen Termin aus, und dann, an dem verabredeten Nachmittag, sitzt sie tatsächlich bei ihm im Zimmer, an dem niedrigen roten Holztisch. Er sitzt ihr gegenüber, beide trinken sie Tee. Georgina, so hat sie sich ihm vorgestellt, trägt Jeans, einen weinroten Rollkragenpulli und schwarze Slipper an den Füßen. Von dem Moment an, als die Frau seine Wohnung betreten hat, branden wieder die fremdartigen Gedanken in seinen Kopf, der Pulsschlag erhöht sich, sein Mund wird trocken. Am liebsten würde der Mann sich ein Bier aufmachen, cool wirken, durch den Alkohol den Druck im Inneren verringern, das Rauschen dämpfen, doch stattdessen sitzt er da, völlig verkrampft, in dem Sessel, sieht die Frau sprechen, nimmt nach und nach ihre Worte wahr, die sich zu Sätzen zusammensetzen, die einen Sinn ergeben, für ihn, und als er versteht, kann er es kaum fassen, was sie da zu ihm sagt: „Ich habe Deine Gedanken aufgefangen, dort, in der Bar, und sofort gewusst, dass wir seelenverwandt sind. Wenn Du es zulässt, George, kann ich die Stimmen in Deinem Kopf ordnen, und wir werden gemeinsam auf Reisen gehen können, in unseren Träumen…“, und George willigt ein, mit einer kleinen Bewegung seines Kopfes.
Das Gewitter ist näher gekommen. Blitze und Donner folgen in immer kürzeren Abständen. Der Wind plasst Regen gegen die Fensterscheibe. George starrt nach draußen, sieht, wie die Äste des Baumes hin- und hergepeitscht werden. George kann nicht mehr in seinen Träumen reisen. Er schafft es nicht einmal mehr, sich an sie zu erinnern. So ist es schon einmal gewesen. Vor langer Zeit. Doch da war Georgina bei ihm, und gemeinsam konnten sie neue Kräfte sammeln. Sie haben sich kurz davor befunden, so hat es sich angefühlt, und die Welt war bereit gewesen für eine Veränderung.
Dies kommt dem dort auf dem Bett sitzenden Mann nun auch nur alles wie ein Traum vor, eine Imagination, ein Wunschgedanke. Das Gleichgewicht der Kräfte droht immer mehr auseinanderzubrechen. Und draußen ist alles grau, von einem unnatürlich anmutenden Schwefelgelb durchwirkt.