Es ist ein schöner Tag. Sonne und Firmament erstrahlen in prächtigen Farben, Wolkengebilde vervollkommnen das Bild. Die Gärten liegen weiterhin brach, wilde Gräser wuchern auf den Kieswegen, Moos hat sich auf Gehwegplatten angesiedelt. Die Vorderseite der Hütte ist fast vollständig mit Efeu bewachsen; einer von den Querbalken der Veranda hat sich mit Regenwasser vollgesogen und ist dadurch morsch geworden.
Susha steht neben einem auf dem Parzellengrundstück groß gewordenen Kirschbaum, betrachtet die bereits sichtbaren Knospen. Dies erweckt Zuversicht in ihr. Sie nimmt sich vor, wieder hierher zurückzukehren, um mit den Aufräumarbeiten zu beginnen, neues Gemüse anzupflanzen und Kräuter auszusäen. Sie zieht die Pforte hinter sich zu, bewegt sich den Weg entlang, lässt ihre Blicke über die anderen Schrebergärten schweifen. Da sieht Susha auf einem Stuhl eine Gestalt sitzen, den Oberkörper vorgebeugt und den Kopf gesenkt haltend, die Arme auf den Knieen verschränkt. Sie geht auf die Gestalt zu, hat Mühe, sie zu erkennen, weil sie flackert wie ein interferierendes Fernsehbild, doch dann… „Hübschi? Hübsch-Dich-zu-sehen, bist Du´s?“ Der Angesprochene hebt seinen Kopf, starrt die Frau an, „Susha!“, will sich aufrichten, fällt wieder auf die Bank zurück. „Hübschi – was hast Du? Was ist mit Dir?“ Susha will den Mann an der Schulter berühren, greift durch den Körper hindurch, spürt lediglich ein Kribbeln wie bei einem leichten Stromschlag. Erschrocken zieht sie ihre Hand zurück. „Ich sterbe“, hört sie Hübsch-Dich-zu-sehen sagen, und sieht ihn gleich darauf seinen Kopf hin- und herbewegen. „Ich löse mich auf, mein… Ich habe zu Lebzeiten nur sehr wenig Energie ansammeln können. Und die ist jetzt wohl aufgebraucht.“ „Es tut mir alles so leid“ flüsternd kniet Susha vor dem allmählich dahinschwindenden Mann, möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen.
„Wie gut, dass ich Dich treffe“, spricht Hübsch-Dich-zu-sehen. „Vor einiger Zeit bin ich Khalil hier begegnet. Er hat mir gesagt, wo er jetzt wohnt…“ Susha muss genau hinhören, da die Stimme immer leiser wird. „Sag mir, wo? Wo finde ich Khalil?“ fragt sie ihn, als er nicht weiterspricht. „Er wohnt in einem Zirkuswagen, auf dem Hof von … Johann, dem Pflanzenesser…“ Das sagt Susha nun nichts. „Der Hof befindet sich nahe bei einem Kanal. Der Ort heißt…“ „Was? Ich kann Dich kaum noch verstehen!“
Der Mann nennt den Ort ein weiteres Mal, und als Susha ihn wiederholt, um sicherzugehen, dass sie richtig verstanden hat, sieht sie Hübsch-Dich-zu-sehen lächelnd nicken, und dann verschwindet sein Energiekörper endgültig von der Bildfläche.
Noch eine Weile sitzt Susha da, trauernd, aber auch froh über diese letzte Begegnung mit Hübsch-Dich-zu-sehen. Sie kehrt zurück zu ihrer Wohneinheit, und als Susha zuhause aufwacht, weiß sie noch von den in der Traumwelt stattgefundenen Begebenheiten. Seit sie aufgehört hat, die Medikamente zu nehmen, kann sie sich wieder an ihre Träume erinnern, und dies verleiht ihr neue Kraft. Kraft, die sie benötigen wird, um sich den negativen Kräften zu stellen, die all das Leid verursachen, welches sie nun wieder verstärkt wahrnimmt. Menschen, von Krieg und Hunger, Folter und Verfolgung bedroht. So genannte Nutztiere, die in Mastställen ihr kurzes Leben fristen, bevor es in Schlachthöfen sein Ende findet. Bäume, die gefällt und zersägt werden, damit aus ihnen Möbel oder auch Papier gemacht wird. Leidende Lebewesen senden ihre Signale in das Energiefeld und erreichen Sushas sensible Sensoren, die jahrelang durch die Wirkstoffe von Medikamenten empfindungsunfähig gemacht worden sind. Es wurde ihr gesagt, dass es so besser für sie wäre. Und Susha glaubte es, akzeptierte, dass sie dafür nicht mehr in Träumen reisen, sich nicht mehr in Krafttiere verwandeln, und sich auch nicht mehr an ihre Träume erinnern konnte. Der Kontakt zu ihren Mitstreitern brach ab, ihre Welt war von nun an reduziert auf immer gleiche Tagesabläufe.
Die Frau atmet tief ein und wieder aus, bewegt dabei ihren Kopf erst nach links, dann nach rechts, horcht. In sich hinein, anschließend auf ihre Umgebung. „Jackie?“ Die Katze ist morgens immer an ihrer Schlafstätte und weckt sie mit ihrem Schnurren. Ihr wird sie gleich als erstes ihr Dosenfutter aufmachen.
Susha rappelt sich von der Matratze auf und geht zur Küche. Dort an dem Tisch sieht sie den Mann sitzen, der gerade dabei ist, eine Pfeife zu stopfen. „Was…Wie sind Sie hier hereingekommen?“ „Guten Morgen, ääh, Susha. Aber Du weißt doch, dass ich einen Wohnungsschlüssel besitze…“ Der Mann deutet auf eine Plastikdosette vor sich auf dem Tisch liegend. „Ich habe Dir die neue Wochenration mitgebracht…“ Der Mann kramt aus seiner Jackentasche ein Feuerzeug hervor, will damit die Pfeife entzünden. „Lassen Sie das! Hier ist rauchen untersagt!“ Der dort am Tisch Sitzende blickt überrascht. „Bisher hat Dich das nicht gestört.“ „Aber jetzt stört es mich. Und die Tabletten können Sie auch wieder mitnehmen. Ich nehme das Zeug nicht mehr.“
Der Mann schnalzt mit der Zunge. „Das wird Mister Abaw aber garnicht erfreuen.“ „Da scheiss ich drauf.“ Herausfordernd starrt Susha den Mann an. Zum ersten Mal wird ihr die Narbe auf seiner rechten Wange bewusst, dann: „Wo ist Jackie?“ „Wer?“ „Die Katze.“ „Ach so. Ich glaube, sie wollte raus. Ich habe das Tier ein bisschen vor die Tür geschickt.“ „Nein!“ Susha eilt zur Wohnungstür, reißt sie auf, und sieht Jackie auf der Fußmatte hocken. Vorwurfsvoll maunzt sie zu ihr hinauf. Die Frau nimmt sie zu sich und kehrt in die Küche zurück. „Und jetzt raus! Raus aus meiner Wohnung!“ Der Mann schüttelt missbilligend seinen Kopf. „Ich bin hier, um Dir zu helfen, Susha. Mit den Medikamenten kannst Du ein geregeltes Leben führen.“ „Darauf verzichte ich. Ich sagte raus, oder…“ „Oder was?“ Susha vollführt eine Bewegung, als wolle sie ihm Jackie entgegenschleudern, was ihn tatsächlich zurückzucken lässt. „Nimm das verdammte Vieh weg!“ Susha ist an den Küchenschrank herangetreten und reißt eine Schublade auf, während das Katzentier zu Boden springt und fauchend einen Buckel macht. „Verschwinden Sie. Und die Schlüssel lassen Sie hier.“ Fest umklammert hält die Frau ein Messer in ihrer Faust. Sich endlich den Drohungen der Frau fügend erhebt sich der Eindringling, jedoch „die Schlüssel kann ich nicht hierlassen, das würde Mister Abaw…“ „Ich sagte, die Schlüssel bleiben hier.“ Die Stimme Sushas ist zu einem Knurren geworden, und in ihren Augen flackert etwas bedrohlich Gelbes auf. „Und wenn Manuel mir etwas zu sagen hat, dann soll er selbst vorbeikommen.“ Der Mann legt das Schlüsselbund auf den Tisch und will gehen, da deutet Susha mit dem Messer auf die Medikamentendosette. „Vielleicht überlegst Du es Dir ja noch einmal“, wagt der Mann noch einen Einwand, doch eine weitere Bewegung mit dem Messer ist unmissverständlich. So greift er sich den Plastikbehälter und strebt ohne ein weiteres Wort dem Ausgang entgegen. Susha schlägt die Wohnungstür hinter ihm zu, bleibt eine Zeitlang mit dem Rücken dagegengelehnt stehen, die Augen geschlossen haltend, bis sie das Maunzen der Katze gewahr wird. „Mensch, Jackie! Du hast ja noch gar kein…“ Schnell öffnet Susha eine Dose, füllt das Futter in den dafür vorgesehenen Napf. Sich auf dem Küchenstuhl niederlassend lässt die Frau ihren Tränen freien Lauf. Tränen der Wut darüber, was sie all die Jahre über sich hat ergehen lassen werden abgelöst von den Tränen der Erleichterung, es geschafft zu haben. Die Entscheidung zu treffen, den Weg des Dahindämmerns zu verlassen, und ihren vermeintlichen Helfern Paroli zu bieten, nicht länger abhängig von ihnen zu sein. Von den Medikamenten, die ihr jede Woche vorbeigebracht wurden von… Der Name war Susha nie genannt worden; vorgestellt wurde er ihr als „Herr Doktor“. Was für eine elendige Scheiße!
Jackie ist fertig mit fressen und hat sich ins Bad begeben. Susha verspürt Hunger, macht sich Toast mit Käse und isst einen Joghurt dazu. Na, ab morgen wird wieder auf die Ernährung geachtet. Zugenommen hat sie, und das gefällt ihr nicht. Es klingelt. „Was willst Du noch?“ raunzt sie über die Wechselsprechanlage, in der Annahme, dass es noch einmal der Herr Doktor ist. „Ich bins, Elias. Kann ich raufkommen?“ Verdutzt betätigt Susha den Summer für die Haustür, und kurz darauf steht ihr Ex ihr gegenüber. „Was willst Du?“ fragt sie, immer noch auf Krawall gebürstet, und Elias erwähnt das Gespräch mit seinem Vater. „Was hat er gesagt?“ will Susha wissen, und Elias steht da im Flur, fragt, ob sie ihn vielleicht reinlassen würde. „Ja, na klar.“ Ob er was trinken möchte, fragt sie ihn, in der Küche sitzend, und Elias bittet um ein Glas Wasser, Susha hat sich Milch eingeschenkt. Jackie hat sich in ihr Häuschen verkrochen. „Also, was genau hat Manuel gesagt?“ Er hat gefragt, wann er sie das letzte Mal gesehen habe, antwortet Elias, und ob er wüsste, wo sich ihre Tochter aufhalten würde. „Er hat nach Julia gefragt?“ faucht Susha ihr Gegenüber an. „Er soll ihr bloß nicht zu nahe kommen, verdammt, sonst…“ „Genau das habe ich ihm auch gesagt. Aber darum schert er sich nicht. Und ich habe ein ganz unangenehmes Gefühl im Bauch.“
Susha nickt. Sie weiß genau, wovon Elias da spricht. „Willst Du mir helfen?“ „Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich muss irgendwann in nächster Zeit…“ „Bist Du mit einem Auto da?“ „Was? Ja, ja, bin ich.“ „Ich habe vorhin von Hübsch-Dich-zu-sehen erfahren, wo Khalil wohnt. Nur…da komme ich so nicht hin.“ „Hübsch-Dich-zu-sehen? Ich dachte, der ist gestorben?“ Susha hat jetzt keine Lust zu Erklärungen. „Also wie siehts aus? Fährst Du mich hin?“ Bevor er zustimmt, will der Mann wissen, wohin es geht, und Susha nennt ihm den Ort, schätzt, dass er vielleicht fünf Kilometer von der kleinen Stadt entfernt ist. Elias rechnet die Fahrzeit durch. „In Ordnung. Dann lass uns jetzt aber auch losfahren!“ „Augenblick. Jackie muss auch mit.“ „Wer ist Jackie?“ „Meine Katze. Oder hast Du etwa Angst vor Katzen?“ „Quatsch! Wie kommst Du denn darauf?“ Kurze Zeit darauf sind Elias, Susha und das Katzentier auf dem Weg zu Johanns Hof.
Das Gefühl der inneren Unruhe hat sich bei George zusehends verstärkt. Zudem findet er kaum noch Schlaf. Er beschließt, etwas dagegen zu unternehmen, steigt am Nachmittag in die Regio-S-Bahn und fährt bis zur nächsten Station in die Kleine Stadt. Ihm ist der Titel eines Buches eingefallen, das vor Jahren Khalil ihm zu lesen empfohlen hat, und denkt sich, dass vielleicht jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Er sucht die Bibliothek auf und fragt die junge Frau am Kundenportal nach dem Buch. Während sie in der EDV-Kartei nachschaut, betrachtet George die Mitarbeiterin, fühlt sich durch sie an jemanden erinnert. Er bekommt als Auskunft, dass dieses Buch sich nicht im Bestand befindet, verlässt die Bücherei und lenkt seine Schritte zum Bahnhof.
Durch die Begegnung mit der jungen Frau fühlt George sich seltsam beschwingt, ist zu neuen Kräften gekommen, die ihn den Entschluss fassen lassen, ein weiteres Mal mit der Bahn in die Große Stadt zu fahren, um sich auf die Suche nach Alexander zu begeben. Dort überquert er den Bahnhofsvorplatz, hält sich links, geht parallel zu den Straßenbahnschienen, orientiert sich an ihm bekannten Gebäuden. George weiß jetzt, wo er sich befindet, welche Straßen und Wege er zu gehen hat, bis er die gesuchte Häuserfassade sieht, das davor angelegte Gärtchen mit dem schmalen rotsteingepflasterten Weg, der zu einer gelb gestrichenen Haustür führt. Der Mann öffnet die etwas mehr als kniehohe Pforte, schließt sie wieder hinter sich, bewundert den Tulpenbaum, der bereits Knospen trägt, steigt die drei Steinstufen hinauf, betätigt den Klingelknopf. Da ihm nicht geöffnet wird, beschließt er zu warten und setzt sich auf die oberste Stufe, hält sein Gesicht der wärmenden Sonne entgegen, schließt die Augen, lauscht dem Rascheln der Blätter im Wind und erinnert sich zurück…
…an ein kleines Festival, zu dem Georgina und er sich begeben hatten, ein Reggae-open-Air. Sie saßen auf der Wiese und lauschten den Klängen der Band, als eine Frau an Georgina herantrat und sie umarmte. Als Georgina sich verwundert zu ihr hinwandte, lachte die Frau sie an, sagte, dass sie eine Verbundenheit mit ihr gespürt habe, und dass sie beide gerne jemanden vorstellen wolle.
Kurze Zeit später trafen Georgina und George D.B., der sie überschwänglich begrüßte und äußerte, ein starkes Kraftfeld wahrzunehmen, das sie beide umgab, und dass sie unbedingt den Samadhitank ausprobieren sollten. Georgina hatte bereits darüber gelesen und stimmte sofort zu, George tat es ihr gleich. Schon nach den ersten beiden Sitzungen nahmen sie die Körper ihrer Krafttiere an, (bei George war es ein Rabe, Georgina wechselte in eine Taube) und unternahmen darin ihre Traumreisen, mitunter zusammen oder auch alleine. Sie begaben sich in ferne Länder und zu unbekannten Orten, und ein paarmal schafften sie es auch, in die Vergangenheit zu reisen.
Eines Tages machte Khalil den Vorschlag, gemeinsam eine Traumwelt zu errichten. Darüber erwuchs eine intensive und ausdauernde Diskussion, wie diese aussehen könne. Georgina wollte gern am Meer wohnen, aber auch mit Bergen in der Nähe. Ein großes Haus mit Garten, und auch ein paar Tieren, Schafe oder Ziegen vielleicht. Hübsch-Dich-zu-sehen dachte an eine Wohngemeinschaft auf dem Bauernhof, mit Land zum Bewirtschaften, und auch mit Tieren, klar, gerne!
Da erwähnte Susha zum ersten Mal den Ausdruck ‚Ich-Ausdehnung‘. Jedes Lebewesen, so erklärte sie, mit einem Bewusstsein habe die Angewohnheit, sich auszudehnen, dies vornehmlich durch Bewegung und Tätigkeit. Während dieser Ich-Ausdehnung, die vom Augenblick der Geburt eines sich-bewussten Individuums beginnt, gerät das Lebewesen in Berührung mit anderen Individuen, es entstehen Schnittmengen bei der Ausdehnung des Ichs. „Ich-Ausdehnung erfolgt immer in Interaktion mit der Umwelt. Und dadurch beginnen sie, ihre Umwelt zu verändern, schlimmstenfalls, bei besonders intensiver, rücksichtsloser Ausdehnung, sie zu zerstören.“
Unter Berücksichtigung dieser Prämissen, fuhr Susha fort, wäre das einzig richtige Handeln des Menschen, das Wesen mit der unbestreitbar größten und mächtigsten Ich-Ausdehnung auf diesem Planeten, sich zurückzunehmen, den Radius seiner Ich-Ausdehnung zu verringern. Und dabei bitte noch die Sicht auf die Dinge und auf das Ganze verändern.
„Und was hat das jetzt mit unserer Traumwelt zu tun?“ wurde sie da von Georgina gefragt. „Ganz einfach…“ Und Susha zeichnete in ihre Köpfe eine Welt, die sich gewöhnungsbedürftig anhörte, aber durchaus denkbar war. Auf der einen Seite forderte sie Verzicht, führte aber dadurch auch zu Bereicherungen. Die Idee, sich wieder mit Pferd und Wagen von Ort zu Ort zu bewegen, fanden alle super. Und so wurde Sushas Entwurf ihrer Traumwelt, mit ein paar kleinen Korrekturen, übernommen.
Sie erschufen eine Stadt mit Wohnblöcken, in denen sich Räume befanden, von wo aus ihre Traumkörper sich losbewegen konnten. Dort hinterließen sie Notizen für die anderen Träumenden zur Orientierung. Es entstanden kleine Handwerksbetriebe, Läden, Straßen und Wege, auf denen sie mit Fahrrädern oder auch Pferdegespannen zu den außerhalb der Stadt liegenden Schrebergärten gelangten. Bauernhöfe mit Ländereien waren in Planung.
In der Zeit die Fünf ihre Traumwelt konstruierten, bekam die Geheimgesellschaft Wind von der Sache, und schickte ihre Schergen aus, um zu beobachten, und bei Gefahr im Verzuge einzugreifen. Es folgten Bespitzelung und Lauschangriffe. Und dann gab jemand den Befehl für einen Zugriff, gerade als sich George und Georgina bei Khalil in einer Traumsitzung befanden.
Durch Alexander, der zu ihnen in Verbindung treten konnte, nahmen sie Kontakt zu D.B. auf, dies über eine auf dem im Besitz von George befindlichen Gedankenaufzeichnungsapparat gespeicherten Botschaft. Alexander bekam von D.B. die Anweisung, dass er sich Hilfe suchen solle zum Herbeiführen des Moments der Stille, um dadurch die Befreiung der fünf Naguals zu ermöglichen.
Nachdem sie aus dem Haus entkommen waren, waren sie so sehr mit dem Aufbau ihrer Traumwelt beschäftigt, dass sie nichts von den Entwicklungen in der wirklichen Welt wahrnahmen. Auch Diego, der sich in eine Hütte im Wald zurückgezogen hatte, kümmerte sich nicht um die Außenwelt, verbrachte die Tage im Tank bei seinen Erinnerungen, um allmählich sein Ich aufzulösen und im Nirvana zu verschwinden. Ab und an erhielt er Besuch vom Treckernomaden, der ihn mit den wenigen Gütern versorgte, die er noch für den Fortbestand seiner irdischen Existenz benötigte.
„George…Rabenvater?“ Der so Angesprochene öffnet die Augen, blinzelt, sieht Jemanden am Treppenabsatz stehen. „Alex!“ George federt hoch, vollführt einen kleinen Tanz, wäre beinahe dabei umgeknickt, stolpert die Stufen hinab, Alexander Vogelsang in die Arme. „George! Wie schön, dass Du den Weg hierher zu mir gefunden hast!“ Der Rabenvater erläutert, dass er vor einigen Tagen sich schon einmal auf den Weg gemacht habe, aber er sei völlig desorientiert gewesen, der Graue Schlier habe sich seiner wieder mal bemächtigt, und… Alexander unterbricht George in seinen Ausführungen. „Komm mit George, wir besuchen Georgina.“ Etwas perplex schaut der Rabenvater da drein, weiß erst nichts darauf zu antworten, um dann seine Bedenken meint äußern zu müssen. „Ich weiß nicht, ob Georgina…“ „Sie wird sich freuen, Dich zu sehen. Komm, wir gehen zu Fuß, es ist nicht weit von hier…“ Unterwegs setzt Alexander seinen Weggefährten über die Geschehnisse der letzten Tage in Kenntnis. „Hat uns Mister Abaw den Krieg erklärt?“ „Mister Abaw ist nur ein Teil der Negativen Kräfte. Ich gehe sogar davon aus, dass auch er Weisungen erhält…“
Sie erreichen das Viertel, und George erinnert sich daran, wann er das letzte Mal dort gewesen ist. „Manches hat sich verändert. Aber es ist immer noch wie früher: die Geschäfte und Kneipen, die Leute, das Bunte“, freut sich der Mann, und dann stehen sie vor Georginas Laden. „Das Buch da…“ Er deutet auf die Schaufensterauslage. „…Danach habe ich gesucht.“ Alexander hat bereits die Tür geöffnet und betritt den Verkaufsraum, gefolgt von George, der ins Staunen gerät, wie Khalil einige Tage vor ihm.
„Georgina? Ich bins, Alexander. Ich habe Jemanden mitgebracht.“ Gleich darauf wird der Vorhang beiseite geschoben, die Ladeninhaberin mustert ihren Besuch; es dauert eine Weile, bis sie erkennt, wer dort steht. „George?“ Dieser nickt, wagt sich aber nicht zu rühren, sondern harrt der Dinge, die nun geschehen werden. Schweißtropfen bilden sich auf seiner Stirn. Auch Alexander steht still da, ist mit einem mal unsicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hat, denn er weiß ja gar nicht, was damals vorgefallen war zwischen Rabenvater und dem Ponee.
Georgina kommt langsam die Stufen hinab, bewegt sich auf den Vater der Raben zu. „Wie kannst Du es wagen?“ hört Alexander die Frau mit einer tiefen, rauen Stimme fragen, „nach so langer Zeit…“ Und dann sieht er, wie Georgina George umarmt, sich an ihn schmiegt, ihr Haupt an seine Brust lehnt. Auch George umarmt Georgina, ganz vorsichtig, und Alexander entlässt seinen Atem, den er während des unsicheren Moments angehalten hat. „Mensch, beinahe hätte ich mir in die Hosen gemacht!“
„Wo hast Du den Kerl denn aufgegabelt?“ will Georgina nun wissen. „Ich kam gerade von der Sparkasse, da sah ich ihn vor meiner Haustür sitzen.“ Die Frau schüttelt den Kopf, „nach all den Jahren“, löst sich von ihrem Traumpartner, „kommt rein“, doch Alexander wehrt ab. „Ich muss unbedingt noch was für die Uni tun! Fahrt ihr Beide zu den Gewürzhändlern, ich komme dann baldmöglichst nach.“ Er gibt ihnen eine winkende Hand, und dann ist er auch schon aus der Tür.
„Und Du? Willst Du etwa auch gleich weiter?“ George verneint, folgt der Frau in den Küchenraum und nimmt auf einem der Stühle platz. „Hast Du Hunger?“ Der Gefragte will schon der Höflichkeit halber mit „nein“ antworten, um der Gastgeberin durch seine Anwesenheit keinen zusätzlichen Aufwand betreiben lassen zu müssen, doch ihre Worte „es ist von heute Mittag noch Suppe übriggeblieben, die würde ich uns jetzt warmmachen“ und die Tatsache, dass er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hat, lässt George zustimmend nicken, was Georgina, die ihm gerade den Rücken zugewendet hat, nicht sehen kann, also fragt sie „willst Du?“ „Ja, sehr gerne“, kommt da als Antwort, und Georgina entfacht eine Flamme von dem Gasherd und stellt den Topf mit der Suppe darauf. „Trinkst Du einen Tee mit?“ Wieder nickt George. „Kräuter- oder lieber schwarzen Tee?“ „Was trinkst Du?“ „Ich hätte mir jetzt einen Pfefferminztee gemacht.“ „Au ja, Pfefferminze ist gut.“ Georgina bereitet den Tee zu, füllt die erhitzte Suppe in zwei Teller, stellt sie zusammen mit Fladenbrot auf den Tisch, setzt sich. „Lass es Dir schmecken.“ „Ja, danke. Du Dir auch.“ Der Mann und die Frau essen, beide wischen sie ihre Teller mit einem Stück Fladenbrot aus. George lehnt eine zweite Portion ab, auch Georgina ist gesättigt. Sie räumt das Geschirr ab, gießt den fertigen Tee in zwei Becher, gibt ordentlich Zucker hinzu. „Das ist Marokkanische Minze“, erläutert sie, was ihrem Gast ein kleines Lächeln entlockt. „Dahin sind wir doch auch gereist, damals, in unseren Träumen…“, erinnert er sich, „…und haben Khalil gesehen, wie er in einem Hotel an seiner Geschichte geschrieben hat“, ergänzt Georgina.
Dann sitzen sie schweigend da und trinken ihren Tee.
„Wann warst Du das letzte Mal in unserer Traumwelt?“ George bewegt leise den Kopf hin und her. „Ich weiß es nicht mehr. Ich kann mich nicht daran erinnern.“ Die Becher sind geleert, Georgina stellt sie zu den Tellern in die Spüle. „Wie schauts aus, kann ich Dich zu einem Schnaps einladen?“ „Och, jo.“ Eine Flasche wird hervorgeholt, zwei Gläser Auf den Tisch gestellt, eingeschenkt. „Was ist denn das Schönes?“ „Bärenfang.“ Das ist doch ein Honigschnaps, oder?“ „Nach altem ostpreußischem Rezept. Auf das, was wir uns erträumen.“ „Auf das Gleichgewicht der Kräfte!“ Während George an dem Glas nippt, leert Georgina ihres in einem Zug, stellt es hart auf der Tischplatte ab, kommentiert „aah, das tut gut“, um sich gleich noch einmal einzuschenken. Das bringt George zum lachen und dazu, sein Glas ebenfalls zu leeren und es Georgina, nach einer auffordernden Geste ihrerseits, zum Auffüllen entgegenzuschieben. „Auf unser Wiedersehen.“ „Ja, auf uns.“ Diesmal nippen sie beide an den Gläsern, stellen sie vorsichtig zurück.
„Was ist eigentlich aus Georgina Taubenfuß geworden?“ will George da von der Frau wissen. „Ich habe sie damals in meinen Träumen zurückgelassen, um den Grauen Schlier abzulenken.“ Diese Antwort lässt George betrübt nicken. „Ja. Der Schlier hat es wieder geschafft, sich in meinem Kopf einzunisten. Und ich meinte, dass wir ihn damals…besiegt hätten.“ „Ja, das dachten wir alle. Doch das ist nicht möglich! Er wird immer weiter existieren, solange Menschen etwas zerstören. Das Leben anderer Menschen, das Leben auf diesem Planeten, ihre Umwelt…“ „Ich bin mir nicht bewusst, so etwas getan zu haben“, widerspricht ihr George, „und dennoch hat er sich meiner bemächtigen können.“ „Und was ist mit Deinen Gedanken“, hinterfragt die Frau. „Meine Gedanken waren zerstörerisch auf mich selbst gerichtet.“ „Was dem Schlier letztlich egal ist.“ „Und dem Äther wohl auch“, erkennt George sein Fehlverhalten an.
So sitzen sie eine Weile schweigend da, ihren Gedanken nachforschend. „Ich wünschte, ich könnte mein Verhalten von damals rückgängig machen“, gibt George seinen Überlegungen Ausdruck, und Georgina sagt, dass es mitunter wünschenswert wäre, Dinge ungeschehen machen zu können. Da dies aber nun mal nicht möglich ist, kann man nur versuchen, aus seinen Fehlern zu lernen. „Haben wir aus unseren Fehlern gelernt?“ will George von Georgina wissen. „Oftmals ist das Handeln eines Menschen beeinflusst durch die äußeren Gegebenheiten…“ „…Oder durch seine Erziehung“, ergänzt George. „Manchmal wird einem Menschen etwas eingeredet oder vorgemacht, was er meint übernehmen zu müssen, weil er ein Recht darauf bekommen hat.“ „Zum Beispiel?“ „Na, das Recht der Frau auf Gleichstellung. Es wird gesagt, dass sie die gleichen Rechte bekommen soll wie ein Mann. Also darf sie Politik betreiben und Reden halten in Parlamenten. Und sie darf sich eine Uniform anziehen und das Töten lernen. Oder sie nimmt leitende Positionen in der Wirtschaft ein und beginnt, dem Mammon zu dienen.“ „Und so hat das Geld Frauen und Männer zu Konkurrenten gemacht“, zieht George seine Schlussfolgerung, doch Georgina widerspricht ihm. Der Mammon ist mehr als nur Geld, erklärt sie, denn das Geld an sich ist neutral. „Aber zu seinem Missbrauch führt das Streben nach Macht, der Neid und die Gier. Diese drei Komponenten formen den Gott – oder Dämon- Mammon. Und sein Einfluss teilt die Menschen. Ob er nun Mann und Frau entzweit, Religionen spaltet, oder die Herrscher von Staaten gegeneinander aufwiegelt: immer fließen dabei Tränen und Blut; und Geld in die Taschen beziehungsweise auf die Konten Derjenigen, die im Namen des Mammon agieren. Anwälte, die sagen, für die Rechte der Geschädigten einzutreten. Die selbsternannten Vertreter irgendwelcher Gottheiten, die für die Spenden in ihre Kollekten das Seelenheil versprechen, und die Industrieellen, die Waffen für die Soldaten herstellen, die für die Herrscher befeindeter Nationen in den Krieg ziehen…“
George hat den Ausführungen der Frau aufmerksam zugehört, nickt zustimmend, trinkt sein Glas leer, stellt es auf dem Tisch ab. „Ja, so sieht wohl die Wirklichkeit aus.“ „Aber als die Wahrheit wird dem Menschen etwas anderes verkauft!“ „Eben, dass er mitziehen muss, sich behaupten, seine Rechte erkämpfen, für die angebliche Gleichheit, für mehr Lohn, für ein bisschen vom versprochenen Wohlstand…“ „…Und an den einzig wahren und guten Gott glauben, derweil die Götter der anderen falsch und böse sind!“ „Und wer den Erlöser für sich beanspruchen kann, der beherrscht die Welt“, weiß George noch zu sagen. Die beiden an dem Tisch Sitzenden schauen sich mit einem verschwörerischen Lächeln an und wundern sich ein bisschen, wie gut sie miteinander harmonieren.
„Also dann, brechen wir auf!“ „Kannst Du denn den Laden jetzt einfach zumachen?“ fragt George. „Klar kann ich das. Ich bin hier doch der Boss!“ „Tja, naja, dann…hast Du denn ein Auto?“ Georgina lacht kurz auf. „Ja, habe ich. Und ich kann sogar damit fahren! Nur damals haben wir Hilfsmittel dieser Art nicht gebraucht…“ „…Weil wir uns dazu entschieden hatten, in der Traumwelt darauf zu verzichten.“ „Nur hier gehts nun mal nicht ohne. Und nun komm…“