Durch die bunten Oberlichter scheint die Sonne herein. In ihrem Licht sind Staubteilchen zu sehen, die sich auf- und abbewegen, umeinanderkreisen, verschwinden und an einer anderen Stelle wieder auftauchen.
Wo diese Partikel wohl herkommen, überlegt der gerade aus den Traumwelten zurückgekehrte, in denen er sich kurz zuvor noch befunden hat. Was wird nur aus ihnen, überlegt er nun, und aus was bestehen sie überhaupt?
Der Mann setzt sich auf, streckt und dehnt seine Arme, schlüpft in die vor der Schlafstatt stehenden Badelatschen und begibt sich zum Küchenbereich. Unterwegs legt er prüfend eine Hand an den Ofen, entscheidet sich, kein neues Holz nachzulegen, denn es ist Samstag, da ist Markt in der Kleinen Stadt, und da kann er etwas für das Gleichgewicht der Kräfte tun!
Zuerst aber wird er für die Stärkung seiner Kräfte sorgen, ergreift einen Topf, füllt ihn mit Wasser aus dem Kanister neben der Spüle, stellt den Topf auf die Arbeitsfläche, dreht den Hahn der darunter stehenden Gasflasche auf und entzündet mit einem Stabfeuerzeug eine der beiden Flammen des Herdes.
Während das Wasser erhitzt, entnimmt der Mann aus der Lebensmittelkiste Haferflocken, Joghurt und einen Apfel, bereitet daraus in einer Schale ein Müsli zu, hängt das mit grünem Tee befüllte Teeei in ein Glas, gießt das mittlerweile zum kochen geratene Wasser hinein, stellt alle Frühstückutensilien auf ein Tablett und geht damit zurück zum Bett, stellt es auf dem kleinen runden Tisch davor ab, will sich setzten, da fällt ihm der noch offene Gashahn ein. Schnell schließt er ihn, und kann sich nun seiner Mahlzeit widmen.
Zwischendurch dreht er das auf dem Nachttisch stehende Radiogerät an. Mr. Tambourin man in der Version der Byrds klingt soeben aus, mit dem Sendesignal wird die Uhrzeit genannt, und ein Nachrichtensprecher beginnt die Meldungen des Tages zu verlesen. Es wird berichtet, dass der russische Präsident Putin im Gespräch mit Amerikas Präsident Obama die Unterstützung prorussischer Truppen in der Ukraine dementiert hat. Würde die Lage sich nicht stabilisieren, droht die EU erneut mit Wirtschaftssanktionen. Es wird auf Annäherung im Gespräch gehofft. Im Osten der Ukraine halten prorussische Truppen seit Tagen Verwaltungsgebäude besetzt.
Dem Mann entfährt ein Seufzen. Erneut sind negative Kräfte dabei, die Oberhand zu gewinnen. Menschen lassen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Nationalitäten oder Religionen gegeneinander aufhetzen. Kriege werden entfacht, die Millionen Menschen fliehen lassen. Gegen sie wird Hass und Misstrauen geschürt, was wiederum zu Ausgrenzung und Gewalt führt. Unterdessen wächst die Macht von Banken und Konzernen, in deren Führungspositionen nicht selten tiefreligiöse Menschen zu finden sind, welche ihren Gott als den einzig Wahren ansehen und dem sie, wie seit Jahrtausenden, Menschenopfer darbringen, durch Terroranschläge und mittels regulär geführter Kriege. Denn: Wer den Erlöser für sich beanspruchen kann, erlangt die Herrschaft über die Welt.
Zu dieser festen Überzeugung ist der Mann im Laufe der Jahre gelangt.
Mit einem weiteren Seufzer schaltet er das Radio wieder aus, da die Sportmeldungen ihn nicht interessieren, und anstelle des Wetterberichts begibt er sich nun nach draußen. Auf der Veranda stehend atmet er die Morgenluft ein. Im Geäst einer der das Gehöft umgebenden Fichten gibt ein Fasan seinen unmelodiösen Laut von sich. Der Mann stützt seine Hände auf die als Geländer dienende Holzlatte. An den kalten Winterabenden, wenn drinnen der Ofen beginnt zu heizen, stellt er sich vor, auf dem Oberdeck eines Schiffes zu stehen, während er sein Bier trinkt, den Blick hinauf zu den Sternen gerichtet. Die See ist ruhig; außer die an den Schiffsrumpf schlagenden Wellen ist kein Geräusch zu hören…
Eine hochgewachsene hagere Gestalt mit einem Schlafanzug bekleidet betritt das Bild. Silbergraues Haar bedeckt in anmutiger Unordnung sein Haupt. Er beginnt scheinbar wahllos von unterschiedlichen Gewächsen Zweige und Blätter abzurupfen, die er in einer mitgeführten Glasschüssel sammelt.
„Guten Morgen, Johann!“ Ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen grüßt der Schlafanzugträger zurück. „Moin, moin, Khalil!“ „Was gibt’s denn heute zum Frühstück?“ „Fichtennadeln“, wird geantwortet, „dazu Weißdorn- und Brombeerblätter.“ „Na, wohl bekomm´s!“ „Jojojo. Da sind die für den Körper wichtigen Enzyme drin. Wichtig dabei ist, wie die aus den Pflanzenzellen herausgelöst werden – das mache ich mit einem speziellen Mixer…“
„Aha.Naja…“ „Wenn Du willst, geb ich dir gleich was zum probieren.“ Das Angebot wird dankend abgelehnt, doch Johann gibt sich so schnell nicht geschlagen. „Dazu kommt noch Zitronen- und Orangensaft, das schmeckt dann richtig lecker und gibt dir die nötige Power“, woraufhin Khalil entgegnet, dass er schon gefrühstückt hat. „So, was gabs denn?“ „Müsli mit Joghurt und Apfel – auch sehr gesund…“ Der Grauhaarige winkt ab und fährt fort, das Grünzeug zu zupfen. Khalil kehrt in seine Behausung zurück und nimmt sich seine Akustikgitarre, die neben dem Bücherregal schräg gegenüber dem Bett steht, setzt sich, stimmt durch. Mit dem Ergebnis zufrieden verpackt er das Instrument in die dazugehörige Tasche, liest die Uhrzeit von dem batteriebetriebenen Wecker ab und beginnt sich anzukleiden. Da die Sonne für die Jahreszeit bereits recht kräftig scheint, kann er seine schwarze Jeansjacke anziehen, nimmt die Gitarrentasche auf den Rücken, verschließt die Tür mit einem Kettenschloss und greift sich sein an die Veranda gelehntes Rad, schiebt es an der Scheune sowie dem vorne hinter einem Baum stehenden Wohnwagen vorbei, erreicht den asphaltierten Weg und macht sich auf den Weg Richtung Stadt. Am Kanal entlangfahrend leistet der Mann sich ein Wettrennen mit einem sandbeladenen Binnenfrachter, schafft es so gerade, die zwanzigprozentige Steigung einer Seitenstraße zu erklimmen, die ihn zur Hauptstraße führt, und nach etwas über fünfundvierzig Minuten hat er sein Ziel erreicht. Er findet einen guten Platz vor der Sparkasse gegenüber einem Obst- und Gemüsestand, platziert die Tasche, versehen mit einer Handvoll Münzen als Anreiz für die Passanten, vor sich auf dem Pflaster und beginnt, die Akkorde G, D, C, G anzuschlagen, singt dazu: „I see the bad Moon rising, I see Trouble on the Way…“ Während des Spielens beobachtet Khalil die Menschen, sieht in dunkle Anzüge gekleidete Männer vorbeieilen, in ihre Handys bellend missmutig zu ihm herüberschielend, zu dem Mann, der es wagt, ihre sowieso schon unzureichende Funkverbindung zusätzlich zu stören. Hier und da werden Briefbörsen aus Einkaufskörben oder Jackentaschen geholt und Münzen zu den bereits dort liegenden geworfen. Nach dem „Walk on the wild Side“ gönnt der Musiker sich eine kurze Pause und nimmt einen Schluck von der mitgebrachten Apfelschorle, als ein geschätzt Endfünfziger an ihn herantritt und ihm einen Zwanzig-Euro-Schein entgegenhält. Khalil ist verwundert über diese spendable Geste, und gleich darauf wird er eingeladen zu einer Party. „Heute Abend, so gegen acht – ganz spontan. Deine Musik würde gut für die musikalische Untermalung passen. Es gibt Essen und Trinken, und ein Schlafplatz ist auch vorhanden…“ Khalil nimmt den Zwanziger entgegen, fragt nach der Adresse, bekommt eine Visitenkarte in die Hand gedrückt und eine Wegweisung dazu. „Die erste Straße gegenüber dem Autohändler links rein. Es ist das Haus, vor dem die Firmenwagen stehen…“ Khalil bestätigt den Termin, und der Mann lässt ihn wissen, dass er nun noch schnell was einkaufen müsse, da seine Frau mit dem Mittagessen warten würde. „Dann bis heute Abend. Ich freue mich!“ Und das ist nicht eine dahergesagte Floskel; Khalil freut sich wirklich über diese Einladung. Beschwingt setzt er sein Freiluftkonzert fort, gibt „House of the rising Sun“ zu Gehör, lässt sogleich das nächste Lied folgen, schließt dabei die Augen, taucht ab in eine andere Zeit – „you know her life was saved by Rock
n Roll“, und so steht Khalil da, um positive Energien auszusenden, an die Leute in der Fußgängerzone, sie mit guten Gedanken und vielleicht einem Lächeln im Gesicht nach hause gehen zu lassen. Und damit das Kraftfeld aufzufüllen, welches alles Lebendige umgibt und in allem Lebendigen wirkt, das Leben überhaupt erst ermöglicht. An dieses Kraftfeld glaubt Khalil. Seit Jahrtausenden taucht es immer wieder in unterschiedlichen Kulturen und Glaubensrichtungen auf – als Qi, Akasha, Prana, oder als Äther bei den Alten Griechen, „der Ort, wo die Götter wohnen“ – „and it was allright…“ Mit einem Schlussakkord lässt er das Lied ausklingen, öffnet wieder die Augen und sieht in einem Abstand von vielleicht fünf Metern diesen Typen stehen, der ihn mit einem wohlwollenden Lächeln beäugt, und Khalil blinzelt. Es ist ihm, als hätte sich dort ein Wesen aus der Zeit, in der er sich während der letzten drei Minuten aufgehalten hat, an diesem sonnigen Samstag Vormittag dort in der Fußgängerzone materialisiert. Etwas jedoch stimmt an dem Gedanken nicht. Der Typ ist, genau wie er, älter geworden. Folgerichtig kann er nur ein Teil der Jetztzeit sein.
„Alex…Alexander!“ Eine Äußerung zwischen Frage und Feststellung. Der so Benannte tritt an Khalil heran, hätte ihn wohl am liebsten umarmt, doch die Gitarre verhindert diese Geste der Verbundenheit. „Khalil! Ich habe es irgendwie…gespürt, dass ich Dich hier antreffen würde!“ Khalil nimmt sein Musikinstrument ab, legt es neben sich auf das Pflaster und kann so seinen alten Weggefährten in die Arme schließen, wobei Tränen der Freude seine Wangen herabfließen. Alexander klopft leise dessen Rücken, und so lösen sich die beiden Männer voneinander.
„Komm, pack Deine Sachen zusammen. Mein Auto steht gleich um die Ecke.“ Khalil leistet Folge, greift nach der Gitarre, muss aber erst noch das Münzgeld einsammeln.
„Wohin fahren wir denn?“ „Wir besuchen jemanden. Eine alte Freundin.“ Khalil unterbricht seine Einpackaktion. „Eine alte Freundin?“ Jetzt wird Alexander allmählich ungeduldig, stopft selbst die Gitarre in die Tasche, schultert sie und stapft voraus, sich halb zu dem ihm folgenden Khalil hinwendend: „Ja. Wir fahren zu Georgina.“
„Zu Georgina?“ echot es wieder hinter ihm und er bemerkt, dass Khalil stehen geblieben ist, stoppt ebenfalls, dreht sich ganz um. „Si, Senor Papagayo! Georgina. Georgina Ponee. Sagt Dir das was?“
Khalil nickt, immer noch reichlich perplex, antwortet „ja, ja klar.“
„Gut. Dann, bitte, mit ganz viel Sahne obendrauf: komm, und zwar rapido. Die Zeit drängt, und wir müssen die Welt retten.“ „Oh ne, nä? Nicht schon wieder!“ hört er Khalils Stoßseufzer und muß trotz der prekären Lage darüber schmunzeln.
Zehn Minuten später befinden sich die Beiden auf dem Weg in die benachbarte Großstadt. Es sind eine Menge Fragen, die Khalil im Kopf herumschwirren, und so formuliert er endlich die erste.
„Wie lange ist es eigentlich her, als wir uns das letzte Mal gesehen haben?“ Alexander rechnet nach, sagt dann „es werden wohl etwas mehr als jetzt zehn Jahre sein…“ Khalil nickt.
„Erst im letzten Jahr habe ich herausgefunden, dass Georgina lediglich ein paar Straßen von mir entfernt wohnt. Eigenartig, nicht?“ Wieder nickt Khalil.
Alexander hält vor einer Ampelanlage, ordnet sich bei grün in die zu seinem Stadtteil führende Straße ein. „Du warst als Letzter noch in dem Haus verblieben, ist das richtig?“ „Ja. Einer der Agenten, der seit Jahren mir auf den Fersen war, wollte mich nun eliminieren. Es blieb mir nichts anderes übrig, als seinem Treiben ein Ende zu setzen. Danach räumte auch ich das Feld, klingelte bei Johann und fragte, ob er Platz bei sich hätte…“
„Johann? Du sprichst von Johann, dem Pflanzenesser?“ „Genau der! Dort wohne ich jetzt, seit… August vor zwei Jahren. In einem Schaustellerwagen.“
Alexander meint, sich verhört zu haben und fragt noch einmal nach. „Oder auch Zirkuswagen. Ein schönes altes Teil, gut isoliert. Letztes Jahr habe ich mir eine Veranda vorgebaut.“ „Na, das ist ja der Hammer jetzt! Wie bist Du denn darauf gekommen?“ „Beim Mucke machen ist mir der Treckernomade über den Weg gelaufen. Ich hab ihm von meiner Situation in dem Haus erzählt, und sogleich fing Mikesch an, Ideen zu konstruieren. So ergab eins das andere…“ „Das ist ja nun wirklich…der Hammer!“
Alexander wirft den Blinker nach links aus, wechselt die Spur, um an einer haltenden Straßenbahn vorbeizufahren. „Erzähl! Wie geht es Mikesch? Was macht er?“ Bedauernd schüttelt sein Beifahrer den Kopf. „Nachdem er den Wagen mit seinem Deutz auf Johanns Hof gefahren hat, hab ich ihn nicht mehr gesehen.“
„Oh, Mensch!“ Alexander haut mit einer Hand aufs Lenkrad. Das ist doch wie verhext! Oder? Was?“ „Ja, irgendwie ist da der Wurm drin“, pflichtet Khalil ihm bei. Die beiden Männer sitzen eine Zeitlang schweigend nebeneinander.
„So, wir sind da“, kündigt Alexander an, findet eine Parklücke, und ein paar Minuten später stehen sie vor der Auslage eines Antiquitätengeschäfts.
In dem Schaufenster, dessen Boden und Seitenwände mit gelber und roter Seide ausgeschlagen worden sind, steht ein siebenarmiger Kerzenleuchter, links daneben eine alte Adler-Schreibmaschine. Zur rechten Seite der Menora liegt aufgeschlagen eine Bibel; dem Umfang des in Frakturschrift gedruckten Buches nach zu urteilen umfasst es sowohl das neue als auch das alte Testament. Um die Bibel herum sind mehrere Schmuckstücke drapiert: eine bronzefarbene Eule dient als Brosche, ein Pentagramm und das Auge des Horus sind Kettenanhänger. Khalil tritt näher an die Fensterscheibe heran, liest den Text auf dem in der Schreibmaschine eingespannten Bogen Papier: ‚Denn der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit‘ (Epistel St. Pauli an die Korinther, 3.17)
„Das alles sieht sehr nach Georgina aus.“ Alexander spiegelt Khalils fröhliche Miene wider. „Na, dann schaun wir doch mal rein.“ Ein Glöckchen ertönt, pingelding, die beiden Männer betreten den Raum, Alexander schließt die Tür hinter sich, dingelping. Die Geräusche von der Straße sind hier fast nicht mehr zu hören.
Khalil beginnt sich umzuschauen, bestaunt eine mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Anrichte, fährt mit den Fingerkuppen über die Lederrücken der in Regalen stehenden Bücher.
Die vorherrschenden dunklen Brauntöne werden aufgemuntert durch herumstehenden Nippes, geradezu ergänzt von einem chinesischen Teeservice, welches auf einem niedrigen runden Tisch drapiert einladend auf einen Käufer wartet, belebt durch die verspielten bunten Figuren, Vasen, Leuchter, die überall hindekoriert wurden, von einer mit wissenden Augen geführten Hand.
Alexander, vorhin noch drängelnd, lässt seinen alten Freund gewähren, damit dieser die in dem Raum befindlichen Energien in sich aufnehmen kann. Khalil hat gerade einen aus blauem Glas gefertigten Delfin in die Hände genommen, als ein Vorhang beiseite geschoben wird. An der gegenüberliegenden Seite des Raumes ist die Silhouette einer Frau aufgetaucht.
„Khalil?“ Der Angesprochene geht auf die Frau zu, ganz vorsichtig, als befürchte er, die Silhouette könne sich auflösen, sobald er ihr zu nahe käme. Unterdessen plaudert Alexander munter drauflos.
„Hab den Kerl auf dem Wochenmarkt in der Kleinen Stadt aufgelesen, als er dort gerade Musik gemacht hat. Irgendwie hatte ich so eine Ahnung und bin einfach losgefahren, und wer steht da…“
Georgina ist die drei aus Ziegelstein gefertigten Stufen hinuntergestiegen und umarmt Khalil, dem sogleich wieder Tränen in die Augen kommen, und der ganz behutsam die Frau ebenfalls in die Arme nimmt. So stehen die beiden Menschen da, eine kleine Ewigkeit, umwoben von Sonnenstrahlen, in denen Galaxien aus Staubkörnchen herumwirbeln, dann lösen sie sich voneinander.
„Hey, Buffalo Soldier“, spricht Georgina, was dem Khalil ein Lachen entlockt, und dann „kommt Jungs, ich denke, wir haben eine Menge zu bereden…“
Die Küche ist zugleich Büro- und Aufenthaltsraum. Die drei sitzen an einem Holztisch, auf dem eine Wachstuchtischdecke liegt. Khalil und Georgina trinken Bier, Alexander hat ein Glas Apfelsaft vor sich stehen.
„Der Laden hat einem Bekannten von Diego gehört. Der tauchte bei mir auf, kurz nachdem George und ich uns getrennt hatten und ich nicht wusste wohin. Er erzählte mir von dem Antiquitätenladen, und dass sein Bekannter…“ „George und Du, ihr seid nicht mehr zusammen?“ Georgina bewegt ihren Kopf hin und her. „Es war die Enttäuschung darüber, dass nach dem Moment der Stille es wieder so anfing weiterzulaufen wie vorher. Alles, wofür wir gekämpft hatten, stellte sich als…“, Georgina sucht nach einem passenden Begriff, „…ein Papierhaus heraus, das dem erneut aufkommenden Sturm nicht standhalten würde. Und wir, wir waren diesem kalten Wind ausgesetzt, und mussten feststellen, dass unsere Zuneigung, die Liebe füreinander, wohl nichts anderes war, als dieses Papierhaus, gebaut aus Wünschen und Träumen, nicht standhaft genug für die…für die Realität. Und so haben wir uns getrennt, bevor unsere Enttäuschung zu Vorwürfen, Anschuldigungen oder gar gegenseitiger Verachtung anwachsen würde…“
Khalil nickt, Betrübtheit zeichnet sein Gesicht ob dieser für ihn neuen Informationen, und da fährt Alexander fort, weitere Lücken zu schließen: „Vor ein paar Tagen geh ich im Viertel spazieren, wollte mir ein Frühstück im ‚Cafe Engel‘ gönnen, da fällt mein Blick auf die Auslage im Schaufenster. ‚Is ja merkwürdig`, denke ich, betrete den Laden, und wer kommt mir entgegen? Georgina P.!“ Die Genannte greift den Erzählfaden auf. „Gerade kurz vorher war Diego, also D.B., hier hereingekommen – er machte den Eindruck, als wäre er auf der Flucht – berichtete, dass die Dunkle Seite so stark wie lange nicht mehr auf dem Weg sei, die Oberhand zu gewinnen, und dass wir – und damit meinte er wohl uns Fünf – uns erneut dieser uns bekannten Kraft entgegenstellen sollen…“
„Womit er mit Sicherheit die Geheimorganisation gemeint haben wird“, ergänzt Khalil die Äußerungen Georginas. „Und wo wohnt George jetzt?“ „Tja, wenn ich das wüsste. Nachdem er ausgezogen ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört.“
Khalil reibt seine Stirn. „Und Susha?“ Wieder verneinendes Kopfschütteln. „Sie hatte damals ihre Tochter bekommen und kurze Zeit später war sie ja verschwunden.“ Khalil hält Georgina die ausgetrunkene Bierflasche entgegen. „Kann ich noch eine, bitte?“ „Weißt Du denn den Aufenthaltsort von D.B.?“ will Alexander wissen. „Nein. Du weißt ja, dass er ungern mit solchen Informationen herausrückt.“ „Danke.“ Khalil nimmt die bereits geöffnete Bierflasche entgegen, stellt sie auf dem Tisch ab, fährt mit dem Finger die Muster auf der Wachstuchdecke nach.
„Wen meint Diego eigentlich mit „wir Fünf“?“ fällt Alexander ein. „Ich gehöre schließlich nicht dazu.“ Khalil und Georgina zeigen sich überrascht. „Warst Du denn nicht auch in dem Tank?“ „Nope. Ich hatte D.B. lediglich die Nachricht übermittelt. Ich weiß ja nicht mal, wie der Typ aussieht…“ Khalil beginnt, an seinen Fingern abzuzählen. „Da wären George, Georgina, Susha, meine Wenigkeit und…“ „…Hübsch-Dich-zu-sehen“, ergänzt Alexander, „und der hat bekanntermaßen das Zeitliche gesegnet.“ „Obwohl ich ihm hin und wieder in der Traumwelt begegne“, wirft Georgina ein.
„Das ist sein Traumkörper“, erinnert Khalil die Frau.
„Richtig! Und die Fähigkeit, in so einem Traumkörper zu reisen besitze ich nicht mehr, weil ich nicht…“ „…Die dafür nötige Energie angesammelt hast“, vollendet Khalil den Gedankengang Alexanders. „So sieht das aus!“
Georgina lässt ein glucksendes Lachen vernehmen. „Wenn uns ein Außenstehender so reden hören würde – Moment der Stille. Dunkle Seite. Traumkörper. Die würden uns für völlig durchgeknallt halten!“ „Absolut“, bestätigt Khalil, „so etwas gehört in den Bereich der Science Fiction, der Fantasy. Stellt euch nur mal diese Schlagzeile in der BILD vor“ – der Mann breitet die Arme aus – : „‘Traumreisende stellen durch den Moment der Stille das Gleichgewicht der Kräfte wieder her’…“ „Früher wären wir auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden“, behauptet Alexander grinsend. „Und heute würden wir zur psychiatrischen Behandlung geschickt werden…“
„Also kann Diego nur sich gemeint haben“, nimmt Alexander den Faden wieder auf. „Dann wird er das Fünfte Element sein!“ „Gab es da nicht mal einen Film?“ fragt Georgina, und Alexander kennt ihn: „Von Luc Besson, richtig! In erster Linie ein SciFi-Action, aber die Botschaft kommt darin vor.“ „Ob der Luc Besson einer von uns ist?“ überlegt Georgina, was Alexander jedoch verneint. „Aber vielleicht hat er ja irgendwo mal was gelesen…“ „…Genau wie George Lucas“, fällt es da Khalil ein. „In seiner Biografie steht, dass er von der Literatur Castanedas fasziniert gewesen ist.“
„Möge die Macht mit uns sein!“ ruft da Alexander aus und tut, als würde er mit seinen Händen ein Lichtschwert schwingen, kehrt aber gleich darauf zum Ernst der Lage zurück. „Fangen wir also an mit unserer Suche nach George und Susha…“ „…Und Diego Balanza“, ergänzt Georgina.
„Ich hab da eine Idee“, spricht Khalil, mehr zu sich selbst. „Vielleicht weiß der Treckernomade etwas über den Verbleib unserer drei Freunde.“ „Ach richtig! Auf der Fahrt hierher erzähltest Du, dass Mikesch Deinen Zirkuswagen zu Johann gezogen hat. Hat der denn einen festen Wohnsitz?“ „Wo er wohnt, weiß ich jetzt nicht, aber ich kenne jemanden, der mit ihm in Kontakt ist. Morgen-ist-eh-alles-zu-spät schaut ab und an bei mir vorbei…“
Jetzt ist es an der Zeit für Georgina, ihre Wissenslücken zu schließen. „Was sind das für Leute, von denen ihr da erzählt? Und wieso Zirkuswagen?“ „Weil seit beinahe zwei Jahren so ein Teil mein Zuhause ist. Und die Leute, wie Du sie bezeichnest, das sind…“ Hilfesuchend wendet er sich an Alexander: „Wie könnte man sie am besten beschreiben?“ Dieser überlegt, wie er darauf passend antworten kann, sagt dann: „Sie gehören zu jenen Menschen, die damals dabei geholfen haben, den Moment der Stille herbeizuführen…“
Mit dieser Antwort gibt Georgina sich vorläufig zufrieden und wendet sich an Khalil mit dem Wunsch, nun doch allzu gerne seine Wohnstatt in Augenschein zu nehmen. „Also dann“, gibt dieser das Signal zum Aufbruch, „machen wir uns auf den Weg!“